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Valerias letztes Gefecht: Roman (German Edition)

Valerias letztes Gefecht: Roman (German Edition)

Titel: Valerias letztes Gefecht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Fitten
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Land. Sie zogen kreuz und quer durch die Lande, vonDorf zu Dorf. Immer in den Ferien besuchte der junge Lehrling, der ein ernster Mensch war, drei Wochen lang seine Mutter. Mit den Jahren jedoch wurde aus seinem Ernst tiefe Schwermut. Er wurde reizbar und beinah streitsüchtig. Als der Schornsteinfeger dann blind wurde und bald darauf starb, vermachte er dem Jungen sein kleines Häuschen und all seine Habseligkeiten. Der junge Mann brachte seine Mutter dort unter und besuchte sie öfter, doch als er dreißig war, wurde sein Lebensüberdruss so groß, dass er das Haus anzündete, das Land verkaufte und seine Mutter in ein Altenheim brachte.
    »Seltsam«, sagte sie dort eines Morgens, als er ihr gerade einen seiner seltenen Besuche abstattete. Sie sah aus dem Fenster, während sie Toast und Marmelade zum Frühstück aßen: »Du warst nie sehr groß. Es ist wunderbar, dass du Schornsteinfeger geworden bist, findest du nicht auch?«
    Der Schornsteinfeger fluchte und warf ihr den Butterteller an den Kopf. Da sie ihren Sohn kannte, hatte die alte Frau nur ein paar Teelöffel Butter daraufgelegt. Der Rest lag gut verwahrt im Eisschrank.
    »Das habe ich als Kompliment gemeint. Du hast einen Beruf. Die Mutter vom kleinen Tibi ist todunglücklich wegen ihm. Er ist nämlich jetzt im Gefängnis.«
    »Es ist egal, was mit dem kleinen Tibi ist, Mutter«, sagte der Schornsteinfeger und drückte seine Zigarette in der Marmelade aus.
    »Oh, das stimmt nicht. Er war so ein netter Junge. Immer hat er seiner Mutter Blumen mitgebracht. Sogar aus dem Gefängnis schickt er ihr Papierblumen. So aufmerksam ist er.«
    »Mutter, Tibi, seine Blumen, du und ich, wir sind für das große Ganze völlig bedeutungslos. Selbst für unsere Mitmenschen sind wir völlig bedeutungslos. Wenn ich morgen beim Schornsteinfegen sterbe, lässt das keinen Chinesen inPeking auch nur erzittern. Er wird nicht mal furzen, nur weil ich gelebt habe.«
    Die Mutter des Schornsteinfegers gluckste und machte große Augen.
    »Du hast einen Chinesen gesehen?«, fragte sie. »Wie war er? Hast du seinen Schornstein sauber gemacht?«
    Der Schornsteinfeger stöhnte.
    »Nein, Mutter, das nicht. Ich sag nur, dass wir beide keine Rolle spielen. Der kleine Tibi, seine Papierblumen, seine Mutter, sogar du und ich sind mir so was von egal.«
    »Ich hab mal Araber gesehen«, erwiderte seine Mutter. »Vielleicht waren es auch Neger.«
    »Mutter, hörst du mir zu?«
    »Am Westbahnhof in Budapest. Ich war noch ein junges Mädchen. Es war 1923.   Das vergess ich nie. Sie saßen zusammen in einem Restaurant und aßen Suppe. Sie wirkten völlig normal. Jeder blieb stehen und starrte sie an. Als sie fertig gegessen und sich den Mund abgewischt hatten, haben wir geklatscht.«
    »Mutter, wir haben keine Bedeutung.«
    »Auch waren sie offenbar vergnügt, sie lächelten uns an. Sie waren sehr charmant. Einer hatte eine Trompete dabei, das weiß ich noch ganz genau.«
    »Die Araber sind mir egal, Mutter.«
    »Neger. Ich bin mir jetzt sicher, dass es Neger waren.«
    Der Schornsteinfeger schnipste seinen Zigarettenstummel in ihre Richtung. Er fiel auf ihr Makrameetuch.
    »Oh je«, sagte sie. »Du hast es ruiniert!«
    »Na, zumindest dazu bin ich imstande«, murmelte der Schornsteinfeger.
    Die Frau blickte in seine Richtung. Sie setzte ihre Brille auf und schüttelte den Kopf.
    »Ich hätte einen Neger zum Sohn haben sollen.«
    »Was?«
    »Ein Negersohn würde bestimmt nie das Makramee seiner Mutter ruinieren. Ach, du hättest sehen sollen, wie hübsch sie ihre Suppe löffelten.«
***
     
    Der junge Lehrling war jetzt ein Mann im mittleren Alter, der auf die sechzig zuging und dessen Mutter längst tot war. Er hatte sich mit seinem Schicksal versöhnt und kam auf dem Hasen in das Dorf Zivatar geradelt. Der Hase war äußerst nützlich und bis auf eine Delle am hinteren Schutzblech, die er dort eines Tages aus Wut hinterlassen hatte, war das Rad einwandfrei. Er erinnerte sich nicht mehr, warum er wütend gewesen war, als er dem Rad einen Tritt verpasste, aber das machte nichts, denn er war sehr oft wü tend . Doch meistens ging er sorgfältig mit seinem Fahrrad um und hielt es vortrefflich in Schuss. Die Kette war immer geölt und gespannt, und wenn er Rostflecken an den Bolzen entdeckte, wechselte er die Kette aus.
    Er putzte die Radspeichen regelmäßig und wechselte die Bremsbeläge alle vier Monate aus. Er hatte immer einen Schlauch und eine Pumpe dabei, und sobald ein Reifen Luft verlor, hielt

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