Valerias letztes Gefecht: Roman (German Edition)
Morgenluft schlief der Schornsteinfeger wie ein Murmeltier. Er atmete tief und gleichmäßig. Er zappelte nicht und schnitt keine Grimassen. Er schlief mit dem Wagemut des Unschuldigen. Die Kinder musterten ihnnoch genauer. Sein Gesicht war schmal und aus seinen Wangen wuchsen schwarze Bartstoppeln. Auf seiner großen Stirn waren tiefe Falten. In der Höhlung seiner linken Wange war eine Narbe, eine richtige Kerbe. Sie stammte von einer Tracht Prügel, die ihm ein wütender Ehemann verpasst hatte, weil er dessen Frau betatscht hatte. Weil der Schornsteinfeger nicht größer als ein Vierzehnjähriger war, wurden die Kinder mutig. Es dauerte ihnen einfach zu lange, bis er wach wurde.
»Gib ihm einen Stups mit dem Stock.«
»Ich kann keinen guten finden.«
»Nimm den hier.«
»Hast du keinen größeren?«
»Schau mal! Du kannst den Finger nehmen. So!«
»Das ist ekelhaft. Sieh dir die ganzen Haare an. Wahrscheinlich hat er Keime in der Nase.«
»Er ist schmutzig.«
»Und er riecht komisch.«
Sie stupsten den Schornsteinfeger weiter, bis er die Augen aufmachte. Er blickte um sich, geriet kurz in Panik, setzte sich dann auf, verzog das Gesicht und schlug nach ihnen. Sein Hals war verspannt, sein Rücken tat weh, seine Augen waren verkrustet. Er wollte eine Tasse Kaffee.
Die Kinder waren sauber und hellblond. Sie hatten helle Augen und rötliche Haut. Jeder hätte einen Kommentar über ihre Pausbacken oder ihre bogenförmigen Münder abgegeben und instinktiv versucht, sie vor den Wechselfäl len des Lebens zu beschützen. Niemand hätte diese schnatternde Kinderschar anschauen können, ohne Hoffnung für das Land und seine Zukunft zu hegen. Keinem Kind lief die Nase und keines hatte einen nassen Hintern.
»Ihr verdammten Ungeheuer! Ihr könnt von Glück sagen, dass ich euch nicht umbringe. Wisst ihr denn nicht, dass ihr Erwachsene in Ruhe schlafen lassen müsst? Verschwindet.«Er rieb sich die Augen und inspizierte sie. Er spuckte ihnen vor die Füße.
»He! So können Sie nicht mit uns reden. Wir sind Kinder!«, sagte der älteste Junge zu ihm.
»Ihr seid ein Haufen schmutziger Affen.«
»Haben wir jetzt Glück?«, fragte ein kleines Mädchen und unterbrach damit den Streit. Sie war die Niedlichste und Hellblondeste von allen … der Typ kleines Mädchen, das Skandinaviern Waschmittel verkaufen konnte.
»Verdammt nochmal, nein. Verpiss dich.«
»Aber mein Papa hat sich bei der Arbeit am Bahnhof den Arm gebrochen und den ganzen Monat nicht gearbeitet. Jetzt ist er böse, weil Mama ihn auf dem Küchenboden neben dem Hündchen schlafen lässt«, erwiderte sie.
Der Schornsteinfeger lachte. »Und was tut dein Papa dagegen?«
»Er sagt, er gibt ihr eine Ohrfeige.«
»Haha! In welchem Haus wohnst du? Vielleicht bring ich dir doch Glück. Vielleicht feg ich als Erstes den Kamin deiner lieben Mutter. Ich hab einen Haufen Geld in der Tasche, das sie sicher ins Herz schließen wird.«
»Ich wohne in dem Häuschen mit dem kaputten Zaun.«
Der Schornsteinfeger schüttelte den Kopf und schaute zu einem kleinen Jungen hinüber.
»Und was ist mit deiner süßen Mama?«, fragte der Schornsteinfeger.
»Seine Mutter ist eine Hure«, erwiderte der älteste Junge.
»Stimmt ja gar nicht! Meine Mutter ist keine Hure! Nimm das zurück!«
»Ist sie wohl. Das weiß jeder. Meine Mutter sagt es die ganze Zeit.«
Der Schornsteinfeger sah hoffnungsvoll aus.
»Hast du einen Papa?«, fragte er und legte dem Jungen die Hand auf die Schulter.
»Nein«, sagte der Junge.
»Gehört deiner Mutter das Haus?«, fragte der Schornsteinfeger, der jetzt noch hoffnungsvoller war, und legte seine andere Hand auf die andere Schulter des Jungen. Er war bereit, ihn zu adoptieren.
Der älteste Junge lachte. »Ha! Sie vermieten ein Zimmer in einem Häuschen.«
Der Schornsteinfeger nahm die Hände von der Schulter des Jungen.
»Also, deine Mutter isst zu viel.«
So redeten sie noch eine Weile, dann stand der Schornsteinfeger auf und klopfte sich den Hosenboden ab.
»Jetzt hört mir gut zu, ihr verdammten kleinen Scheißer. Wenn ihr nicht sofort von hier verschwindet, kriegt ihr einen Fußtritt. Haut ab.«
Er schob sie beiseite und radelte davon. Er machte sich nicht einmal die Mühe zu packen. Die Kinder umringten ihn und rannten schreiend neben ihm her. Immer mehr Kinder tauchten auf und schlossen sich an. Sie fielen lär mend über ihn her.
»Ihr seid zum Verzweifeln«, sagte er zu ihnen. »Warum geht ihr nicht brav nach Hause? Ich
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