Valhalla: Thriller (German Edition)
zahlen. Abgesehen davon: Die Vorstellung, Tag für Tag irgendwelche lärmenden, desinteressierten Bälger unterrichten zu müssen, behagte ihr noch weniger. Dann schon lieber durch meterdicke Eis- und Gesteinsschichten kriechen. Wie würde es nur werden, wenn sie selbst ein Kind hatte? Würde sich ihre Einstellung ändern? Würde sie jemals eine gute Mutter werden?
Der Gedanke an das kleine Wesen verdrängte alle Sorgen und Ängste. Die Wände aus Eis wichen zurück. Sie spürte eine Kraft, von der sie nicht geglaubt hatte, dass sie sie besaß. Es war, als flöge ihr Geist auf Autopilot, als wüsste er genau, wohin die Reise ging. Ja, dachte sie, du kannst das. Für dieses kleine Geschöpf, das noch nicht mal geboren war, könntest du alle Kämpfe bestreiten, alle Hindernisse überwinden und alle Ängste besiegen. Du wirst nicht mehr allein sein, nie wieder, bis ans Ende deiner Tage. Es wird immer jemand da sein, der dich braucht, der dir etwas bedeutet und der zu dir aufsieht, ob du nun einen guten Tag hast oder einen schlechten. Und wenn du es nicht völlig vermasselst, bekommst du sogar das, was du dir im Verborgenen immer gewünscht hast: eine Familie.
Ein überwältigendes Gefühl von Glück durchströmte sie. Es floss tief in ihre Mitte und wärmte sie mit einer hellen, kraftvollen Flamme. Und ehe sie sich versah, war sie durch die engste Stelle des Tunnels hindurch und auf der anderen Seite. John, der hinter dem Gepäck auftauchte, trat auf sie zu und sah sie verwundert an. Seine Augen leuchteten vor Erleichterung. »Du hast es geschafft, Hannah. Um ehrlich zu sein, ich war mir nicht sicher, ob ich dir das zumuten kann. Ich habe mich nicht getraut, dir zu sagen, wie schlimm der Tunnel wirklich ist, weil ich doch weiß, wie sehr du dich vor der Enge und Dunkelheit fürchtest. Ich bin stolz auf dich.«
»Ich war ja nicht allein«, sagte sie rätselhaft.
Er sah sie einen Moment lang fragend an, doch als klarwurde, dass nichts weiter kommen würde, räusperte er sich und rief: »Okay, Leute. Alle gut durchgekommen? Gut. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal besonders darauf hinweisen, wie wichtig es ist, dass eure Anzüge intakt bleiben. Sie sind zwar recht stabil, aber auch das zäheste Material gibt irgendwann nach. Und um ein Loch mit Klebeband zu flicken, müssten wir erst mal wissen, dass es überhaupt existiert. Viele Löcher sind zu klein für das Auge, nicht aber für Mikroben. Ich bin sicher, dass Roberto mir da zustimmen wird. Also bitte Vorsicht, in Ordnung?«
»Wir werden schon aufpassen, versprochen«, sagte Hiroki. »Was wolltest du uns zeigen?«
John zog einen Rucksack aus der Öffnung. »Warum übernimmst du das nicht, Ilka? Ich werde inzwischen unser Gepäck wieder tragfähig machen.«
»Kommt mit«, sagte die Dänin. »Ich bin wirklich gespannt, was ihr davon haltet.«
Nur wenige Schritte von der Stelle entfernt, wo sie aus dem Stollen herausgekommen waren, befand sich eine feuchte Stelle am Boden, auf die von der Decke unablässig Schmelzwasser tropfte. Pfützen, die teilweise schon die Größe kleiner Tümpel erreicht hatten, säumten den Boden. Ein klares Zeichen dafür, dass selbst im Dezember die Temperaturen in diesen Stollen über null Grad lagen. Hannah hatte sich eh schon gewundert, wie mild es hier unten war. Sie folgte dem Lichtstrahl und bemerkte einige merkwürdige, längliche Formen im Matsch.
»Was ist das?«
»Seht es euch an.«
Hannah ging in die Hocke und fuhr den Umriss mit dem Finger nach. Merkwürdig. Wüsste sie es nicht besser, hätte sie behauptet, den Abdruck eines menschlichen Fußes zu sehen. Allerdings gab es so viele Aspekte, die nicht ins Bild passten, dass sie den Gedanken eigentlich gleich wieder verwerfen musste. Als sie zur Seite schaute, sah sie weitere Abdrücke.
»John sagte, du bist so etwas wie eine Spurenexpertin. Also, was meinst du?«
Hannah überschlug die Abmessungen, setzte sie in Beziehung zur Form und schüttelte denn den Kopf. »Da bin ich überfragt«, sagte sie. »Auf den ersten Eindruck sieht es aus wie ein menschlicher Fuß. Ein nackter menschlicher Fuß, wohlgemerkt. Gerade noch zu erkennen an den fünf kleineren Vertiefungen im Vorderbereich und der größeren am Ende. Doch da endet die Ähnlichkeit auch schon wieder. Das Ding ist zu lang und zu breit, um von einem Menschen zu stammen, selbst wenn jemand so verrückt wäre, hier unten barfuß herumzulaufen. Dass die Form sich nicht durch Gefrier- oder Tauvorgänge nachträglich
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