Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Valley - Tal der Wächter

Titel: Valley - Tal der Wächter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Stroud
Vom Netzwerk:
kalte, unwirtliche Ödnis, aber so unberührt und erhaben, dass es Hal den Atem verschlug.
    Aud dagegen schnitt eine Grimasse. »Und weit und breit kein Pfad.«
    »Na ja, der Pfad wird uns nicht entgegengelaufen kommen, um uns die Hand zu schütteln! Wir müssen uns eben umsehen...« Er stockte. »Was ist das da drüben?«
    Sie runzelte die Stirn. »Was denn? Ein Pfad ist es nicht, das steht mal fest.«
    »Hör auf zu nörgeln und schau hin. Da unten, der kleine schwarze Fleck, auf den gerade die Sonne scheint. Ist das eine Höhle oder bloß ein Schatten?«
    Aud beschattete blinzelnd ihre Augen. »Könnte ein Schatten sein...«, sagte sie gedehnt. »Aber wenn wir es genau wissen wollen...«
    Am Südhang des Berges lagen nicht so viel Schnee und Eis wie auf der Nordseite, aber der Boden wurde immer matschiger, je näher sie dem Geröllfeld am Fuß der Anhöhe kamen. Sie rutschten beide immer wieder aus, ihre wollenen Hosen waren klatschnass und scheuerten auf der Haut. Doch keiner von beiden achtete auf diese Unannehmlichkeiten. Sie waren stehen geblieben, standen in stummem Staunen da.
    Vor ihnen, inmitten kreuz und quer liegender geborstener Felsbrocken, tat sich in der Felswand ein Spalt auf, oben eng, unten breiter, wie eine herabrinnende Träne. Kühle, feuchte Luft wehte daraus hervor, es roch nach Dunkelheit und uralter Stille. Hal bekam eine Gänsehaut, und er sagte mit piepsiger Stimme: »Du, Aud...«
    »Das ist eine ganz gewöhnliche Höhle«, lautete ihre forsche, bestimmte Antwort. »Nicht die Tür zur Halle des Troldkönigs.«
    »Na ja, das sagst du so, aber...«
    »Ich kann es dir gern beweisen. Ich gehe einfach nachsehen.«
    »Lieber nicht, Aud, ich glaube nicht, dass...«
    »Es wäre natürlich besser, wenn wir eine Laterne dabeihätten, aber ich kann bestimmt auch so ein Stück hineinsehen...« Schon kletterte sie über das Geröll bergab.
    »Lass das!«, rief ihr Hal nach. »Oder nimm wenigstens die Sichel mit!«
    Aud blieb auf einem flachen, nassen Felsen stehen. »Ich will deine blöde Sichel nicht! Aber meinetwegen, ich gehe nicht weiter als ein paar Schritte hinein. Wenn ich einen Trold sehe, renne ich gleich wieder raus, einverstanden?« Kichernd schlüpfte sie in den Spalt. »Da geht’s ziemlich weit rein«, hallte es von drinnen. »Man braucht wirklich eine Laterne.« Hal sah ihre schlanke Gestalt in dem Rahmen aus kaltem Stein mit der Dunkelheit verschmelzen. Schon war sie kaum noch zu erkennen, dann war sie ganz verschwunden. Er hörte nur noch den losen Schutt knirschen.
    Hal wartete. Oben, wo sich der Spalt verjüngte, wölbte sich das weiche Gestein vor wie steif gefrorene Vorhänge. Der Anblick erinnerte ihn an die Vorhänge zu Hause, hinter denen der Flur zu dem Schlafzimmer führte, wo sein Vater jetzt lag. Er sah vor sich, wie sich die Brust des Vaters unter der Überdecke stetig hob und senkte, und fühlte sich wieder gefangen, erstickt... Erst jetzt fiel ihm auf, dass er keine Schritte mehr hörte.
    »Aud?«, rief er. »Aud?« Es war so still, dass er das Blut in seinen Ohren rauschen hörte. »Aud?«, rief er lauter. »Beim großen Sven...« Seine Handflächen wurden feucht, er setzte sich in Bewegung und schlitterte bergab.
    Da hörte er sie endlich rufen, ganz leise, wie von weit weg: »Hal...«
    »Wo bist du?«
    »Komm doch mal her...«
    Es klang ängstlich. Hal kramte fluchend in seinem Bündel nach der Sichel, sprang dabei auf die flachen Steine vor dem Höhleneingang hinunter und trat beherzt ins Dunkel. Anfangs sah er überhaupt nichts, ging mit tastenden Schritten wie ein Blinder und wühlte im Gehen mit einer Hand immer noch in seinem Bündel herum...
    »Huch!« Seine andere Hand streifte etwas Weiches. Er hörte Aud leise aufschreien, spürte rauen Wollstoff, als er die Hand wieder zurückzog. »Sag mal, spinnst du?«, schimpfte er. »Bist du noch ganz bei Trost? Stell dir vor, ich hätte die Sichel schon gezückt...«
    »Sieh doch mal, Hal!«
    Er starrte angestrengt in die Finsternis und nach und nach zeichneten sich fahle Umrisse ab. Auds geisterhaft blasses Gesicht schwebte direkt vor ihm. Hinter ihr warf die schräge Felswand das schwache Licht zurück, das durch den Eingang hereinfiel. Der Boden war mit irgendwelchen mattweißen Gegenständen übersät, manche lang und dünn, andere kleiner und gebogen.Wieder andere lagen als helle Scherben auf der schwarzen Erde.
    »Du, Aud...«, raunte Hal, »ich glaube, das sind...«
    »Ich weiß, was das ist, um Arnes willen!«

Weitere Kostenlose Bücher