Valley - Tal der Wächter
Ihre Stimme klang eigenartig gespannt.
»Schön, dann weißt du ja auch, dass wir sofort hier raus…« Er ertastete ihren Arm und zog sie in Richtung Ausgang. Sie sträubte sich nur schwach. Schon standen sie wieder blinzelnd und atemlos im Freien, unter dem grauen Himmel, vor den hoch aufragenden Bergen.
Auds Kapuze war heruntergerutscht, das Haar verdeckte ihr halbes Gesicht. Sie versuchte, sich wütend aus Hals Griff zu befreien. »Lass mich endlich los!«
»Gern.«
»Wieso kriegst du es auf einmal so mit der Angst zu tun? Es muss nicht unbedingt das sein, was du glaubst.«
»Ach nein? Was soll es denn sonst sein? Und wenn du mir jetzt wieder etwas von Wölfen und Adlern erzählst, trete ich dich vors Schienbein.«
Sie stampfte mit dem Fuß auf. »Nur zu! Es können genauso gut Wölfe oder Bären gewesen sein...«
»Das waren aber keine Tierknochen,Aud! Ich habe Oberschenkelknochen und Rippen erkannt und...«
»Trotzdem können es Wölfe gewesen sein. Oder... oder... vielleicht auch irgendwelche Diebe, die einen Raubzug über die Grenze unternommen haben. Das kann sogar sehr gut sein! Und es ist lange her, denn die Knochen waren schon alt.Vielleicht waren es irgendwelche Landstreicher, die in der Höhle Schutz gesucht haben und... und dann erfroren sind.«
»Du streitest also ab, dass wir womöglich die mit Menschenknochen geschmückte Halle des Troldkönigs gefunden haben?«, fragte Hal. »Die aus den Geschichten, an die du angeblich nicht glaubst.«
»Ich glaube das nicht, ganz genau!« Aud stemmte die Hände in die Hüften und funkelte ihn trotzig an. Er stand ein Stück von ihr entfernt und umklammerte vor lauter Empörung und Aufregung den Riemen seines Bündels so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Sie schüttelte noch einmal entschieden den Kopf. »Wer immer sich in dieser Höhle verkrochen hat, Hal, er ist schon sehr lange tot.Vielleicht schon seit Hunderten von Jahren. Diese Knochen sind uralt und kein Grund durchzudrehen.«
Hal befeuchtete sich die Lippen und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Hm.«
»Ich habe recht und das weißt du auch. Wären Sven oder Arne etwa vor ein paar ollen Knochen weggerannt?«
Hal wurde ruhiger. »Lass uns darüber reden, aber nicht hier. Komm mit.«
Während sie den Hang wieder hinaufkletterten, zankten sie sich weiter, weil keiner von beiden nachgeben wollte, auch wenn sich im Grunde beide ihrer Sache nicht ganz sicher waren. Hal war zwischen instinktiver Vorsicht und dem Wunsch, sich vor seiner Freundin keine Blöße zu geben, hin und her gerissen. Gebeutelt von diesen widerstreitenden Gefühlen, kamen ihm ungewohnt bissige Bemerkungen über die Lippen. Aud ihrerseits war verunsichert und reagierte beleidigt. Als sie die Bergkuppe erreicht hatten, war die Stimmung reichlich angespannt. Trotzdem brachte der Hunger sie dazu, sich auf einen Felsen zu setzen und etwas zu essen. Am Stand der Sonne konnten sie erkennen, dass es schon Nachmittag war.
Eine ganze Weile schwiegen beide, dann meinte Hal: »Wir sollten uns bald wieder auf den Rückweg machen.«
Aud kaute auf einem Streifen Räucherfleisch herum. »Nein.Wir haben es noch nicht eilig.«
»Wo sollen wir in dieser Wildnis denn noch suchen?« Hal machte eine ausholende Handbewegung. »Heute finden wir den Pfad sowieso nicht mehr.Wir müssen ein andermal wieder herkommen und weitersuchen.«
»Du hast ja bloß Angst vor den ollen Knochen.«
»Ach, halt die Klappe!«
Aud warf ihr Fleisch weg. »Wenn ich noch einen Bissen von dem Zeug runterwürgen muss, kotze ich! Es gab den ganzen Winter nichts anderes.« Sie griff in Hals Bündel und kramte zwischen seinen Waffen. »Du hast doch bestimmt noch Käse oder irgendetwas anderes eingesteckt … Was ist das denn?«
Sie holte einen sonderbaren schwarzen Gegenstand hervor, gebogen wie eine Sichel, schmal wie eine Messerschneide und am Ende abgerundet und plump. Das Licht brach sich auf der gezackten Schneide und der tückischen Krümmung.
»Das ist die Troldklaue, von der ich dir erzählt habe«, antwortete Hal. »Mit der mich der Händler umbringen wollte. Pass auf damit.«
»Wieso? Sie ist doch nicht echt, oder? Warum hast du sie überhaupt einge… Autsch! Bei Arnes Blut, ist das Ding scharf!«
Sie setzte sich erschrocken auf und sog an ihrem Finger. Als sie den Finger aus dem Mund nahm und hochhielt, lief dunkelrotes Blut aus dem Schnitt und rann wie Wasser über ihren Handrücken. Das Blut sammelte sich zwischen ihren Fingern und fiel
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