Valley - Tal der Wächter
einfallen lassen, als die Wolken den Mond verdeckt hatten? Ach ja – er hatte die Augen geschlossen. Hal zwang sich, es seinem Vorbild nachzumachen. Schon besser. Jetzt waren die Lichter verschwunden. Aber zu hören war außer Auds keuchendem Atem immer noch nichts. Er spürte ihren Rücken beben.
»Wir müssen weiter zu den Gräbern, Aud«, sagte er leise und tätschelte ihre Kapuze. »Glaubst du, das kriegst du hin?«
»Klar.Tu nicht so herablassend.« Ihr wütender Ton beruhigte ihn. »Ich weiß einfach nicht, wo das blöde Messer geblieben ist.«
»Nicht so schlimm. Nimm meine Sichel.« Er drehte sich halb um und tastete nach ihrer Hand. »Hier, nimm!«
»Und womit willst du dich verteidigen?«
»Ich nehme die Klaue.« Er bückte sich und kramte auf dem Boden des Bündels, bis er das knöcheldicke stumpfe Ende von Björns Troldklaue in die Finger bekam. Wahrscheinlich war die Klaue sowieso schärfer als die Sichel, wenn sie sich auch schlechter fassen ließ.Vielleicht bekam ihr Verfolger, wer es auch sein mochte, ja einen Schreck, wenn er die Klaue sah – womöglich hielt er sie für echt. »Können wir?«, vergewisserte er sich.
Sie gingen weiter, Schritt für Schritt, Arm in Arm. Aud stützte sich wieder auf ihn. Zwischendurch blieben sie lauschend stehen, doch es war nichts zu hören, nur der Wind, ihre eigenen Atemzüge und das Rauschen des Bluts in ihren Schläfen.
Hal schöpfte wieder Hoffnung. »Ich glaube, wir sind fast da. Aud?«
»Hm?«
»Wir sind schon fast an den Gräbern. Siehst du das kleine Licht da vorn?« Ein gelber Fleck trieb tanzend im Finstern. »Ich glaube, das ist Ruriks Hof auf der anderen Talseite.Wenn wir das sehen können, müssen wir kurz vor dem Hügelkamm sein. Noch ein paar Schritte und wir sind in Sicherheit.« Er wartete, aber es kam keine Antwort. »Aud?«
»Was?«
»Das Biest hat dich doch nicht verletzt? Das hättest du mir doch gesagt?«
»Mir geht’s gut.« Aber ihre Stimme klang wieder verdächtig dünn. Hal beschleunigte seinen Schritt.
Was dann geschah, kam nahezu völlig überraschend. Hal spürte plötzlich einen kalten, modrig riechenden Hauch auf der Wange und warf sich instinktiv nach links, gleichzeitig schubste er Aud in die andere Richtung. Er landete auf dem Knie, schlitterte über den Schnee, spürte etwas an sich vorbeistürmen. Ein Übelkeit erregender Geruch stieg ihm in die Nase, er hörte Aud würgen.
Er kam wieder auf die Beine, fuhr herum und drosch blindlings mit der Klaue um sich, denn er hatte keine Ahnung, wo der Angreifer lauerte.
Dann hörte er Aud kreischen und es klirrte wie von brechendem Eisen. Mit gebleckten Zähnen stürmte Hal los, da griff ihn etwas von hinten an, etwas, was dermaßen nach Erde und Verwesung stank, dass Hal die Galle hochkam.
Außerdem war das Wesen so entsetzlich kalt, dass Hals Gesicht erstarrte und seine Finger taub wurden. Fast hätte er die Klaue fallen lassen, doch er holte entschlossen aus und traf den unsichtbaren Verfolger im selben Augenblick, als der über ihn herfallen wollte.
Es knirschte wie von malmenden Zähnen.
Etwas Schweres traf seine Wange. Mit einem Aufschrei taumelte Hal zurück, fing sich aber wieder.
Scharfe Krallen packten ihn an der Gurgel. Sein Kopf wurde seltsam leer, seine Knie wollten nachgeben. Weit weg hörte er Aud rufen. Das hielt die sich ausbreitende Kälte auf.
Hal riss die Troldklaue mit einem heftigen Ruck nach oben. Sofort löste sich der Griff um seinen Hals. Ein Schrei war zu vernehmen, ein Schrei, voller Schmerz und bitterer Verzweiflung. Dann traf ein Schlag Hal vor die Brust. Er überschlug sich einmal und landete rücklings in einer Schneewehe.
Wieder tanzten vor seinen Augen kleine Lichter. Er rappelte sich unbeholfen auf, prustete Schnee aus Mund und Nase.
Die Klaue hatte er noch in der Hand.
Was konnte er hören?
Den Wind, das ferne Poltern von Geröll. Und Auds Schluchzen.
Hal wankte auf das Schluchzen zu. Er setzte behutsam Fuß vor Fuß, prallte aber trotzdem gegen Aud.Tastend stellte er fest, dass sie auf dem Boden hockte.
»Ich hab’s noch mal getroffen«, stieß sie hervor. »Aber diesmal ist die Sichel abgebrochen.«
»Ich glaube, ich habe es auch erwischt. Es hat die Flucht ergriffen, aber es kommt bestimmt wieder und bringt Verstärkung mit. Steh auf, Aud, wir müssen hier weg.«
Er half ihr aufstehen.
Wortlos stolperten sie weiter und stießen im nächsten Augenblick mit den vorgestreckten Händen auf ein Hügelgrab. Ohne es zu ahnen,
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