Valley - Tal der Wächter
mehr so abschüssig. Dann führte der Weg aus dem Nadelwald hinaus in eine Gerölllandschaft – die Ausläufer des Untertals. Auch der Fluss leistete Hal bald wieder Gesellschaft, wobei seinVerlauf scharfe Knicke und enge Biegungen beschrieb. Er war schon viel breiter als weiter oben. Hier und da eilte er durch flache, steinige Abschnitte und ergoss sich dann in tiefe, dunkle Becken. Auf den Hängen unterhalb der Steilwände sah Hal die ersten Kühe grasen, auch Ziegen waren auf steinigen Weiden eingepfercht. Allmählich wurde der Boden sichtlich fruchtbarer, das Gras saftiger und grüner, das Vieh zahlreicher. Das Tal verbreiterte sich noch mehr, es gab wieder Platz und Luft. Die Sonne ließ den Nebel verdunsten und Hal erkannte am Horizont eine Lücke zwischen den Hügelkämmen und dahinter eine sonderbar glatte, ausgedehnte Fläche – das musste das Meer sein.
Als er von der Sonne gewärmt wurde und der bedrückenden Enge der Schlucht entkommen war, hellte sich Hals Stimmung mit jedem Schritt weiter auf. Die Schrecken der Nacht verblassten, und das, was er getan hatte, kam ihm immer weniger wie eine Verzweiflungstat vor, sondern viel eher wie etwas umsichtig Geplantes. Er musste sogar ein bisschen lachen.Wie schlau er den Schuft doch in den Abgrund gelockt hatte!
Am Straßenrand bezeichnete ein geschnitzter Heldenpfahl – eine uralte, verwitterte, kaum noch erkennbare, aber leuchtend blau gestrichene Figur – die Grenze eines Besitzes. Hinter Feldern,Wiesen und einer Baumreihe erkannte man eine Ansammlung roter fremdartiger Ziegeldächer. Von den Giebeln wehten Fahnen, demnach war es der Stammsitz eines großen Hauses. Wunderbar! Dort konnte er bestimmt Proviant, ein neues Messer und andere Dinge kaufen und – warum auch nicht? – die Nachricht von seiner jüngsten Heldentat in Umlauf bringen. Bestimmt hatte Björn auf einsamen Pfaden schon so manchen Wanderer ausgeraubt. Dass er nun tot war, würde man hier begrüßen, ja vielleicht musste Hal nicht einmal seinen Proviant bezahlen.
In diese angenehmen Tagträume vertieft, kam Hal an eine Steinsäule, an der sich die Straße gabelte. Rechter Hand ging es auf einem schönen, breiten, von Obstbäumen gesäumten Weg zu der Siedlung, die er schon von Weitem gesehen hatte. Unter den Bäumen standen Frauen auf Leitern und pflückten Pflaumen. Neben der Säule hockte ein kleiner Junge mit rotblonden Haaren und brauner Haut im Straßenstaub. Er war nur mit einem langen, grob gewebten Hemd bekleidet und musterte Hal neugierig.
»Tag, Kleiner«, sagte Hal. »Wem gehören die Dächer hinter den Bäumen?«
»Den Eirikssons, das weiß doch jeder«, antwortete der Junge. »Wieso hast du so kurze Beine? Ist ein Baum auf dich draufgefallen?«
»Was ist dir lieber – ein Goldstück oder eine Kopfnuss? Überleg’s dir gut.«
Der Bengel bohrte in der Nase und dachte nach. »Ein Goldstück.«
»Dann lass die frechen Bemerkungen und lauf rasch zum Hof hinüber. Sag allen Bewohnern Bescheid, dass ein Held im Anmarsch ist.«
Der Junge schaute erschrocken in alle vier Himmelsrichtungen. »Wo denn?«
»Hier!«, sagte Hal barsch. »Nein – hier. Ich! Ich bin der Held.«
Der Junge machte ein langes Gesicht. »Gib mir erst das Goldstück. Oder lieber gleich zwei. Ich krieg bestimmt Haue, wenn ich so’ne faustdicke Lüge erzähle, da muss es sich schon lohnen.«
Hal trat einen Schritt auf ihn zu. »Zweifelst du etwa an meinen Worten? Ich habe soeben in der tiefen Schlucht einen üblen Dieb erschlagen. Spring und leiste meiner Bitte freudig Folge!«
Der Junge rappelte sich träge hoch. »Ich vergeude nicht meine Zeit, ich warte hier auf meinen Vater. Und was das Springen betrifft, dafür habe ich nicht die Kraft. In den letzten Wochen, seit Papa weg ist, hatten meine Mutter und ich kaum etwas zu beißen. Wenn er nicht bald wiederkommt und Geld mitbringt, müssen wir verhungern.«
Hal holte den Geldbeutel aus seinem Bündel und kramte eine Münze heraus. »Hier, nimm! Dieses Goldstück dürfte eure Not lindern. Und jetzt gaff nicht meinen Beutel an, sondern mach dich, so schnell du kannst, auf den Weg und verkünde allen die Neuigkeit. Ich komme nach.«
Der Junge entfernte sich, anfangs langsam und sich immer wieder umwendend. Zu Hals Ärger schlug er nicht den Weg zum Hof ein, sondern lief zu den Obstbäumen, wo eine dürre rothaarige Frau vor einem Korb stand, in den sie die von oben heruntergereichten Pflaumen warf. Es folgte eine lebhafte Unterhaltung, in deren
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