Valley - Tal der Wächter
nicht ablenken und rannte kreischend und mit den langen Fingernägeln nach ihm schnappend weiter hinter Hal her, bis er keine andere Möglichkeit mehr sah und sie in einen Graben schubste. Danach gewann er an Boden, wurde jedoch mit Pflaumen und anderem Obst beworfen, bis er die nächste Straßenbiegung hinter sich gelassen hatte.
Der folgende Tag war kein guter. Die Suchtrupps von Eiriks Haus gingen so gründlich vor, dass Hal gezwungen war, sich, bis zur Nasenspitze in schwarzem Schlamm vergraben, in einem sumpfigen Schilfstreifen zu verstecken. Als sie die Suche irgendwann einstellten und er sich endlich wieder auf die Straße wagte, glich er eher einem humpelnden Landstreicher als einem heldenhaften Rächer. Sein Proviant war pitschnass, seine Trinkschläuche von Blutegeln durchlöchert, sein Geld futsch und seine Kleider zerlumpt und verdreckt.
Ohne Verpflegung und ohne Geld, um sich welche zu kaufen, war Hal zu einem Verhalten gezwungen, das ihm zu Anfang seiner Reise nicht eingefallen wäre. Statt im Triumph durch das Untertal zu ziehen und gefeierter Gast in jedem Haus dort zu sein, verbrachte er seine Tage damit, sich in Gräben zu verstecken, abgelegene Höfe zu bestehlen, ständig auf der Flucht zu sein und etliche Male um ein Haar geschnappt zu werden. Hungrig und erschöpft, wie er war, blieb ihm nichts anderes übrig, als zu stehlen, und obwohl seine Beute schrecklich eintönig war – altbackenes Brot, Käse und ein bisschen Obst -, zog das jede Menge Ärger nach sich. Bauern jagten ihn mit Mistgabeln, alte Männer mit Knüppeln, Waschfrauen mit nassen Lappen und Kinder bewarfen ihn mit getrockneten Kuhfladen. Einmal verscheuchte ihn eine Kinderschar mit einem Steinhagel, als er mithilfe der an einen Stock gebundenen Troldklaue aus einem Gebüsch heraus ihre Kuchen aufspießen wollte. Er hatte kaum noch die Gelegenheit, sich Tagträumen über irgendwelche Ruhmestaten hinzugeben, für ihn ging es ums nackte Überleben.
Hals Entschlossenheit tat das keinen Abbruch. Er hätte ja jederzeit kehrtmachen, den langen Rückweg zu seinem Elternhaus antreten und das Leben, aus dem er ausgebrochen war, wieder aufnehmen können. Doch trotz aller Schicksalsschläge war er immer noch von dem leidenschaftlichen Wunsch beherrscht, seinen Onkel zu rächen. Meile um Meile, einen quälenden Tag nach dem anderen, näherte er sich unaufhaltsam dem Hause Hakonsson und damit dem Meer.
Der Besitz der Eirikssons lag hinter ihm, die Straße führte durch fruchtbare Weiden, die den Häusern Thords und Egils gehörten. Hier war das Tal sogar noch breiter, der Fluss wand sich als glitzerndes Band in weiten Schlaufen durch das flache Land. Die Hügelketten zu beiden Seiten waren inzwischen so niedrig, wie es Hal nie für möglich gehalten hätte, die graubraunen Berge dahinter kaum höher als flache Gebirgsausläufer. Trotzdem konnte man die Hügelgräber noch gut erkennen, vor allem wenn die Sonne tief stand.Wie eine Perlenschnur aufgereiht, markierten sie die Grenze der bewohnbaren Gegend.
Manchmal grübelte Hal, wenn er an einsamen Abenden irgendwo im Wald saß und an einem geklauten Hühnerbein oder einem Fleischstückchen kaute, über die vielen neuen Eindrücke und Erfahrungen nach. Obwohl er schon viele Tage unterwegs war, obwohl ihm die hiesigen Gebäude mit ihren steilen Giebeln, den leuchtend roten Ziegeldächern und weiß gekalkten Mauern fremd waren, obwohl die Menschen hier in sonderbare Farben gekleidet und die Felder überwältigend fruchtbar waren, waren das Obertal und das Untertal einander auch wieder verblüffend ähnlich: Häuser, Felder,Vieh – und Hügelgräber natürlich. Trolde oben, Menschen unten.
Er hörte im Geiste seinen Onkel wieder sagen: Das Tal ist kleiner, als du glaubst ...
Und doch gab es auch viel Erstaunliches zu entdecken. In der Ferne erkannte er den Troldfelsen, einen zwischen dunklen Bäumen hoch aufragenden Kegel. Leider musste er wegen einer lärmenden Bauernmeute, die aufgrund eines gestohlenen Ferkels und eines Räucherschinkens nicht gut auf ihn zu sprechen war, auf einen Besuch jener ehrwürdigen Stätte verzichten.
Nicht zu vergessen das Meer. Schon immer hatte Hal es einmal sehen wollen. Jetzt, da seine Stiefel stetig eine Meile nach der anderen überwanden und er seinem Ziel immer näher kam, fiel ihm auf, dass der Wind einen salzigen Geruch herantrug. Der kräftige Wind peitschte ihm ins Gesicht, drang tief in seine Lungen und blies alle Müdigkeit fort. Dann sah er hoch
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