Valley - Tal der Wächter
hatte viel Zeit, sich um einen missratenen Zweitgeborenen zu kümmern. Mit jedem Tag hingen die Wolken tiefer über dem Haus, das Vieh wurde immer näher an die Troldmauern herangetrieben, Dächer und Wände der Stallungen wurden instand gesetzt. Hal nahm wortlos seinen Platz unter den Arbeitern ein und packte mit an, und die anderen merkten bald, dass er kräftiger und auch geschickter geworden war, sein Gesicht war nicht mehr so kindlich, der Ausdruck seiner Augen fester und entschlossener. Wer ihm sein Verschwinden noch übel nahm, hielt sich daraufhin mit entsprechenden Bemerkungen zurück, und er zog viele verstohlene Blicke auf sich.
Eines Tages wurde Hal ins Zimmer seiner Eltern gerufen. Arnkel, der im Lauf des Herbstes deutlich hagerer geworden war und von einem hartnäckigen Husten geplagt wurde, saß verlegen auf seinem Stuhl und blickte ins Leere. Hals Mutter stand neben ihm. Ihre Miene war wie immer unnachgiebig.
Arnkel sah Hal nur flüchtig aus dem Augenwinkel an, dann wandte er den Blick wieder ab.
»Na, bist du noch da? Bist du noch nicht wieder weggelaufen?«
»Ach, Vater! Ich habe doch schon gesagt, dass es mir leid…«
»Deine Entschuldigungen waren reichlich dürftig, an deiner Stelle würde ich jetzt den Mund halten. Schluss damit. Deine Mutter und ich möchten dich etwas fragen. Gestern kam Kar Gestsson hier vorbei und wollte uns seine letzten paar räudigen Felle andrehen. Aus Nettigkeit habe ich ihm zwei Stück abgekauft, aber das nur nebenbei. Kar hatte Neuigkeiten aus dem Untertal. Er erzählte – und ich halte ihn für verlässlich, wenn er auch schwer zu verstehen ist, weil er nicht mehr alle Zähne im Mund hat -, also, er erzählte...«, mit einem Mal sah Arnkel seinem Sohn forschend ins Gesicht -, »dass Olaf Hakonsson tot und sein Hof abgebrannt ist.Was weißt du darüber?«
Hal wurde es mulmig, aber er ließ sich nichts anmerken. »Tot? Wie das?«
»Das ist noch nicht geklärt. Aber allem Anschein nach ist er einem Verbrechen zum Opfer gefallen.«
Hals Mutter schaltete sich ein: »Ein Eindringling soll ihn in seinem Schlafzimmer überfallen haben...«
Hal rieb sich scheinbar grübelnd das Kinn, dann antwortete er: »Das sind ja schlimme Nachrichten. Unterwegs habe ich einmal weit im Osten Rauch aufsteigen sehen. Vielleicht war das der Hof der Hakonssons.«
»Dann bist du nicht bei ihnen vorbeigekommen?«
»Nein,Vater.«
»Und du hast nicht zufällig Olaf umgebracht?«
»Nein,Vater!« Hal lachte schallend. »Ich?«
Sein Lachen erstarb. Er sah vom einen zum anderen. Seine Eltern hatten beide versteinerte Mienen aufgesetzt und betrachteten ihren Sohn unverwandt. »Ich gebe zu, es klingt reichlich unwahrscheinlich«, räumte Arnkel schließlich ein. »Trotzdem... Nun, wenn du es nicht gewesen bist, dann ist es ja gut.Wir haben dich gefragt, du hast uns geantwortet, damit ist die Sache erledigt.« Er streckte seufzend die langen Beine aus. Seine Arme waren dünner, als Hal sie in Erinnerung hatte, die kräftigen Knochen zeichneten sich unter der Haut ab. »Ganz unter uns Männern gesagt«, fuhr sein Vater fort, »bin ich froh, dass der Mörder meines Bruders tot ist, und ich danke seinem Mörder, wer es auch sein mag. Deine Mutter hat da mehr Bedenken. Nächste Woche gehen wir vor den Rat, um die Entschädigung für Brodirs Tod zu fordern, und jetzt fürchtet sie, die Neuigkeiten könnten den Ausgang der Verhandlung beeinflussen. Ich mache mir deswegen keine Sorgen. Immer vorausgesetzt...«, setzte er nachdrücklich hinzu, »... immer vorausgesetzt, dass wir nicht in die Sache verwickelt sind und dass niemand anderslautende Beweise vorbringen kann! Dann haben wir nichts zu befürchten.«
Ob es an Arnkels schlechter körperlicher Verfassung lag oder daran, wie er sich ausgedrückt hatte, jedenfalls war es Hal auf einmal ungeheuer wichtig, seinen Vater zu beruhigen. »Ich könnte mir vorstellen«, sagte er gedehnt, »dass der Mörder keinerlei Spuren hinterlassen hat. Sicherlich hatte Olaf viele Feinde. Nicht wenige werden ihm den Tod gewünscht haben und es gibt sicher zahlreiche Verdächtige. Das Ganze braucht uns nicht zu beunruhigen. Geht es dir nicht gut,Vater?«
»Doch, doch. Ich spüre nur den Winter kommen. Diese Jahreszeit konnte ich noch nie leiden. Bezähme du nur dein Temperament, mein Sohn, dann wirst du unserer Familie noch viel Ehre machen.Wenn du fleißig bist, bekommst du übernächstes Jahr einen schönen eigenen Hof. Willst du das tun? Brav.«
Astrid legte
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