Valley - Tal der Wächter
ihm die Hand auf die Schulter. Sie wirkte unverändert besorgt, und als sie Hal ansah, war ihr Gesicht immer noch ungerührt. Nach einer Weile sagte sie: »Um unser aller willen hoffe ich, dass du die Wahrheit sagst. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass du den Schiedsherren unseren Fall überzeugend vorträgst.«
»Ich werde ihnen alles haarklein schildern, Mutter.«
»Na schön. Dann kannst du gehen.«
»Ach, eins noch«, rief ihm Arnkel nach, als Hal schon fast zur Tür hinaus war. »Du hast nicht zufällig mein Messer gesehen? Mein bestes Messer?«
Hal senkte den Kopf. »Ich... hatte es eingesteckt, Vater... und dann habe ich es verloren.«
Arnkel seufzte erst, dann bekam er einen Hustenanfall. »Eigentlich müsste ich dir dafür noch eine Abreibung verpassen, aber mir ist der Arm schon ganz lahm. Geh jetzt, mein Sohn, und behalte unsere kleine Unterhaltung für dich.«
Hal durchquerte die Halle, in der Svens Schätze hingen, grau von Staub. Das Kistchen für den Silbergürtel stand noch dort, wo er es hingestellt hatte. Ursprünglich hatte Hal vorgehabt, den Gürtel wieder hineinzulegen, hatte es aber noch nicht getan. Der Gürtel lag neben der gefälschten Troldklaue unter seiner Matratze. Er würde ihn irgendwann zurücklegen, wenn sein kleiner Ausflug erst vergessen war und niemand mehr auf ihn achtete.
Dummerweise hatten die Händler, die Arnkel und Astrid die Neuigkeiten aus dem Untertal überbracht hatten, auch mit anderen Bewohnern des Hauses gesprochen. Die zogen die eine oder andere Schlussfolgerung und bald war das Interesse an Hal neu entfacht.
»Es heißt, der Mörder hat Olaf Hakonsson aus dem Bett gezerrt und ihm die Gurgel durchgeschnitten, jawohl!«, brummte der Schmied Grim und wischte sich den Bierschaum aus dem Bart. »Und dann hat er die Leiche auch noch angezündet, damit ihn seine Verwandten geschändet finden!«
»Olaf war kein Schwächling, das ist allgemein bekannt«, raunte Eyjolf. »Um ihn auf solche Art und Weise hinzurichten, muss jemand Bärenkräfte besitzen.«
»Das hätte der Junge doch nie hingekriegt, oder?«
»Ach was. Dafür ist er viel zu klein...«
Der Brotbäcker Bolli wiegte den Kopf. »Habt ihr ihn schon mal beobachtet, wie er die Schafställe instand setzt? Wie er da den Hammer schwingt? Man spürt förmlich bei jedem Schlag, dass er eine gewalttätige Natur hat. Dass er so klein ist, macht ihn irgendwie noch unheimlicher. Wäre er ein großer starker Mann, könnte man das ja noch begreifen, dann wär es nicht so gruselig. Brr, mich überläuft’s! Jedenfalls würde ich dem Kleinen lieber nicht dumm kommen.«
»Erinnert ihr euch noch an seinen Großonkel Onund?«, warf die Gerberin Unn ein. »Der soll genauso gewesen sein. Eigentlich ein schwächliches Bürschchen, aber wenn ihn der Zorn packte – dann musste man sich in Acht nehmen! Dann konnte er einem mit bloßen Händen das Genick brechen, ruck, zuck ging das!«
»Ich wüsste zu gern, wie es der Kleine geschafft hat, in Hakons Haus einzubrechen! Habt ihr schon mal gesehen, was für Mauern die haben? Er muss sich wie eine Fledermaus rübergehangelt haben.«
»Irgendwie unnatürlich, findet ihr nicht?«
»Also ich würd mich lieber nicht mit ihm anlegen.«
Es dauerte nicht lange, bis Hal auffiel, dass die Leute verstummten, wenn er vorbeikam, dass sie ihn verstohlen beobachteten und über ihn tuschelten, sobald er ihnen den Rücken zudrehte. Zu seiner Verwunderung behandelten ihn die Erwachsenen auf einmal beinahe eingeschüchtert mit Achtung, während ihm Horden kleiner Kinder nachliefen oder sich hinter Pfosten und Büschen versteckten und neugierig zu ihm herüberspähten, wenn er seiner Arbeit nachging.
»Was haben die bloß alle?«, fragte er Leif und Gudny eines Morgens beim Frühstück entrüstet. »Eben haben mich drei Bengel begafft, als ich auf dem Abort saß! Als ich mich umgedreht habe, sind sie kichernd davongerannt. Das ganze Haus spielt verrückt!«
»Was kümmert’s dich?«, entgegnete Leif kurz angebunden. Seit die Gerüchte ihre Runde machten, begegnete auch er seinem Bruder mit einer gewissen feindseligen Vorsicht. Oft sah man ihn am Bierfass stehen und grübelnd in seinen Becher blicken. »Das hast du dir doch immer gewünscht, oder nicht?«
»Was denn?«
Sein Bruder lachte bitter auf. »Stell dich nicht so dumm! Berühmt und berüchtigt zu sein, was sonst?«
Hal runzelte die Stirn. »Blödsinn. Aber jetzt...«
»Bitte keine falsche Bescheidenheit, Hal«, sagte Gudny.
Weitere Kostenlose Bücher