Vampir sein ist alles
ich den Geruch von fruchtbarem Kompost und den Geschmack des Todes wahrnahm. Sie füllte meine Lunge aus, bis ich dachte, sie würde platzen. Dann breitete sie sich weiter aus und drang in sämtliche Winkel meines Körpers vor. Es war wie eine Heimkehr: Lilith nahm sanft und mühelos IHREN Platz in mir ein. Ich spürte einen behaglichen Seufzer, und mich durchströmte das warme Gefühl von Seelenverwandtschaft und Vertrautheit.
Im selben Moment sah ich, wie Kojote wieder in Micahs Körper verschwand. Micahs Gesichtszüge strafften sich, seine Jugendlichkeit kehrte zurück, und plötzlich verstand ich. Kojote hatte von Micah Besitz ergriffen wie Lilith von mir - mit dem Unterschied, dass Lilith nur kurze Ausbrüche hatte, während Micah immer Kojote war.
Micah verzog den Mund zu einem hämischen Grinsen und kam auf mich zu. Er packte mich kurzerhand am Kragen und knallte mich fest gegen die Wand. Die Luft wich ruckartig aus meiner Lunge. „Hat dir deine Mutter nicht beigebracht, dass Stehlen unrecht ist?“, knurrte er mir ins Ohr.
Er mochte ein Gott sein, aber er war auch ein Mann. Also verpasste ich ihm einen ordentlichen Tritt dahin, wo ein Mann am empfindlichsten ist: in die Knie. Er ging jaulend zu Boden, und sofort fielen die drei stämmigsten männlichen Zirkelmitglieder und William über ihn her und zogen ihn von mir fort.
Er schüttelte sie mühelos ab. „Ich habe dir geholfen, und zum Dank nimmst du mir etwas weg, das mir gehört?“
„Dir? Mir hat Lilith zuerst gehört!“ Oh, meine Göttin, das klang vielleicht kindisch. Ich setzte trotzdem noch eins drauf: „Wer’s findet, dem gehört’s!“
„Ich muss SIE haben!“, sagte Micah, und ganz kurz glomm wieder diese Verzweiflung in seinen Augen auf.
„Du musst vor allem jetzt gehen, Kollege“, entgegnete Griffin.
Mátyás stellte sich zwischen mich und Micah. „Ja, ich denke auch, du solltest verschwinden.“
Micah musterte die beiden mit höhnischem Blick, als wollte er sagen: „Im Vergleich zu mir seid ihr doch kleine Jungs.“ Dann gluckste er verächtlich und wandte sich mir zu. „Wir reden ein andermal darüber, Garnet. Unter vier Augen.“
Damit verließ er das Haus.
Es gestaltete sich schwierig, den Kreis, den wir geschlossen hatten, auf halbwegs kontrollierte Weise wieder zu öffnen. Obwohl alle ihre alten Plätze einnahmen und sich nach besten Kräften auf die Aufgabe besannen, konnte man die Energie bestenfalls als chaotisch bezeichnen. Selbst ich konnte mich kaum konzentrieren.
Schließlich fiel der Kreis mit einem dumpfen Knall in sich zusammen. Die Wächterinnen sahen mich missbilligend an und verschwanden im Nebel.
Es dauerte nicht lange, bis alle anfingen, sich in kleinen Grüppchen zu unterhalten. Jemand holte eine Tupperdose mit Schokokeksen hervor, die offensichtlich für den geselligen Teil des Ritualabends bestimmt waren.
Mátyás reichte mir einen Keks. „Na, das ist nicht nach Plan gelaufen, was?“
„Nein“, sagte ich, lehnte mich gegen die Wand und beobachtete die anderen. William und Griffin schienen über irgendetwas zu diskutieren, und Blythe ließ sich offenbar von Xylia und ein paar anderen erzählen, was sie verpasst hatte. Ich biss in den Keks, ohne ihn richtig zu schmecken. „Aber mein zweiter Widersacher hat sich trotzdem gezeigt.“
„Hat er?“, fragte Mátyás. „Ist es jemand aus der Gruppe?“
„Nein, ich glaube nicht. Ich hätte es an seiner oder ihrer Energie gespürt, als ich den Kreis gezogen habe, auch ohne Lilith.“ Ich legte unwillkürlich eine Hand auf meinen Bauch und freute mich sehr darüber, SIE dicht unter der Oberfläche zu spüren. „Ich bin ziemlich sicher, dass hier alle gegen den Angreifer gekämpft haben, auch Micah.“
„Aber Marge nicht“, bemerkte Mátyás. „Sie hat sich verdrückt.“
Tatsächlich? Ich war so damit beschäftigt gewesen, Micah einzubeziehen, dass ich gar nicht mehr auf Marge geachtet hatte. „Meinst du, sie ist es?“
Mátyás schüttelte den Kopf. „Nein, es muss jemand sein, der nicht zum Zirkel gehört, wie du sagtest. Wen hattest du noch auf der Liste? Eine von Vaters Blutspenderinnen?“
„Die dürfen doch keine Magie praktizieren.“
Mátyás leckte sich geschmolzene Schokolade von den Fingern. „Dann bricht wohl irgendjemand die Regeln.“
„Stimmt“, sagte ich, „aber wer?“
Mátyás zuckte mit den Schultern. „Hast du sie jemals angerufen?“
„Ich habe eine von ihnen persönlich kennengelernt“, entgegnete ich.
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