Vampire Academy 04
wurde bereits einige Male gefoltert, doch die meisten ihrer Kämpfe waren mentaler Art gewesen. Sie hatte noch nie eine körperliche Auseinandersetzung durchlitten. Für mich war es nichts Ungewöhnliches, hin und wieder gegen Wände geschleudert zu werden, aber für sie war ein kleiner Schlag an den Kopf bereits rohe Gewalt.
Kriech einfach los, befahl ich. Sieh zu, dass du von ihm und dem Fenster wegkommst. Möglichst in Richtung Tür.
Lissa krabbelte auf Händen und Füßen los, doch sie war zu langsam. Reed bekam ihr Haar zu fassen. Ich fühlte mich irgendwie, als spielten wir irgendwelche Spiele am Telefon. Angesichts der Verzögerung zwischen meinen Anweisungen und ihrer Reaktion hätte ich die Botschaft ebenso gut durch fünf Personen übermitteln lassen können, bevor sie Lissa erreichte. Ich wünschte, ich hätte ihren Körper wie ein Marionettenspieler kontrollieren können, aber ich war ja leider keine Geistbenutzerin.
Es wird wehtun, aber dreh dich so weit wie möglich um und schlag ihn.
Oh, es tat wirklich weh. Je weiter sie sich umdrehte, desto schmerzhafter wurde der Griff in ihrem Haar. Sie bekam es jedoch trotzdem ganz gut hin und schlug wild auf Reed ein. Ihre Treffer waren zwar nicht besonders koordiniert, aber sie überraschten ihn immerhin so sehr, dass er ihr Haar losließ und sie abzuwehren versuchte. In dem Moment fiel mir auf, dass auch seine Bewegungen nicht allzu koordiniert waren. Er war stärker als sie, sicher, aber abgesehen von ein paar Grundtechniken, hatte er offensichtlich keine komplette Kampfausbildung genossen. Er war aber auch gar nicht zu einem richtigen Kampf hierhergekommen; er war nur gekommen, um sie aus dem Fenster zu stoßen und die Sache damit hinter sich zu bringen.
Lauf weg, wenn du kannst! Lauf weg!
Sie krabbelte rückwärts durch den Raum, nur leider führte ihr Fluchtweg nicht in Richtung Tür. Stattdessen kam sie weiter in den Raum hinein, bis sie mit dem Rücken gegen einen rollbaren Schreibtischstuhl stieß.
Schnapp dir den Stuhl. Schlag ihn damit.
Leichter gesagt als getan. Reed stand direkt vor ihr und versuchte immer noch, sie zu packen und auf die Füße zu zerren. Sie ergriff den Stuhl und gab ihm einen Stoß, um Reed damit zu treffen. Ich hatte gewollt, dass Lissa den Stuhl hochhob und damit auf ihn einschlug, doch das war für sie nicht so leicht. Es gelang ihr jedoch, sich aufzurappeln und den Stuhl zwischen sich und Reed zu bekommen. Ich gab ihr Anweisung, weiter mit dem Ding nach Reed zu schlagen, damit er sich zurückzog. Das funktionierte einigermaßen, aber sie hatte einfach nicht genug Kraft, um ihm ernsthaften Schaden zuzufügen.
Inzwischen rechnete ich halb damit, dass Avery sich in den Kampf einschalten würde. Es wäre eine Leichtigkeit gewesen, Reed dabei zu helfen, Lissa unter Kontrolle zu bringen. Stattdessen sah ich aus Lissas Augenwinkeln, dass Avery vollkommen reglos, mit leicht getrübtem Blick dasaß. Okay. Das war zwar seltsam, aber ich hatte nichts dagegen, dass sie sich aus dem Kampf heraushielt.
So wie es aussah, steckten Lissa und Reed in einer Pattsituation, aus der ich meine Freundin unbedingt befreien musste. Du bist in der Defensive, sagte ich. Du musst ihn jetzt angreifen.
Endlich bekam ich eine direkte Antwort. Was? So etwas kann ich nicht! Ich habe keine Ahnung, wie das geht!
Ich zeig’s dir. Verpass ihm einen Tritt – vorzugsweise zwischen die Beine. Das zwingt die meisten Männer in die Knie.
Ohne weitere Worte versuchte ich, ihr die Gefühle zu übermitteln, die ihr zeigen sollten, wie sie welche Muskeln anspannen musste, um ihn anzugreifen. Lissa wappnete sich und schob den Stuhl beiseite, sodass zwischen ihr und Reed der Weg frei war. Das überraschte ihn offensichtlich und verschaffte ihr eine günstige Gelegenheit. Ihr Bein schnellte vor. Sie verfehlte zwar die Kronjuwelen, aber immerhin traf sie ihn am Knie. Das war fast genauso gut. Als sein Bein unter ihm nachgab, stolperte er rückwärts und schaffte es gerade noch, sich an dem Drehstuhl festzuhalten. Doch der Stuhl rollte weg und nützte ihm somit herzlich wenig.
Lissa brauchte nicht erst angetrieben zu werden, um an diesem Punkt sofort zur Tür zu rennen – allerdings war die inzwischen versperrt. Simon kam soeben herein. Im ersten Augenblick waren Lissa und ich froh und erleichtert. Ein Wächter! Wächter bedeuteten Sicherheit. Wächter beschützten uns. Die Sache war nur die, dass dieser Wächter für Avery arbeitete, und uns wurde sehr bald
Weitere Kostenlose Bücher