Vampire Academy 04
nur in die Quere kommen.“
„Avery!“ Seine Stimme dröhnte laut und wütend. Lissa zuckte zusammen und trat zurück. „Dieses Gespräch ist hiermit beendet. Geh zurück in dein Zimmer und werd wieder nüchtern, bevor dich irgendjemand sieht. Ich erwarte dich morgen zum Frühstück, und zwar in respektablem Zustand. Wir haben ein paar wichtige Gäste.“
„Ja, und Gott weiß, dass wir unbedingt den äußeren Schein wahren müssen.“
„Geh in dein Zimmer“, wiederholte er. „Bevor ich Simon rufe und er dich mit Gewalt dort hinzerren muss.“
„Ja, Sir“, erwiderte sie geziert. „Auf der Stelle, Sir. Was immer Sie sagen, Sir.“
Er schlug die Tür zu. Lissa, die noch hinter der Ecke stand, konnte kaum glauben, dass er all diese Dinge zu seiner eigenen Tochter gesagt hatte. Einige Sekunden lang herrschte Stille. Dann hörte Lissa Schritte – die auf sie zukamen. Im nächsten Moment kam Avery um die Ecke und blieb direkt vor Lissa stehen, sodass wir sie uns zum ersten Mal genauer ansehen konnten.
Avery trug ein eng anliegendes, kurzes Kleid aus einem blauen Stoff, der im Licht silbern schimmerte. Die Haare fielen ihr lang und wild über die Schultern, und die Tränen, die ihr aus den blaugrauen Augen liefen, hatten ihr Make-up zerstört. Der Geruch von Alkohol war deutlich wahrnehmbar. Sie wischte sich hastig mit einer Hand über die Augen; offensichtlich war es ihr peinlich, so gesehen zu werden.
„Tja“, sagte sie energisch. „Ich schätze, du hast unser Familiendrama mitbekommen.“
Lissa war es ebenso peinlich, beim Spionieren ertappt worden zu sein. „Es – es tut mir leid. Ich wollte das nicht. Ich kam nur gerade vorbei …“
Avery stieß ein raues Lachen aus. „Na, ich glaube, das macht jetzt auch nichts mehr. Wahrscheinlich haben uns alle innerhalb des Gebäudes gehört.“
„Es tut mir leid“, wiederholte Lissa.
„Das muss es nicht. Du hast ja nichts falsch gemacht.“
„Nein … ich meine, es tut mir leid, dass er … du weißt schon, dass er diese Sachen zu dir gesagt hat.“
„Das gehört zu einer ‚guten‘ Familie eben dazu. Jeder hat so seine Leichen im Keller.“ Avery verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich an die Wand. Obwohl sie so erregt und zerrupft war, sah sie wunderschön aus. „Gott, manchmal hasse ich ihn. Nichts für ungut, aber diese Schule ist einfach schrecklich langweilig. Für heute Abend hatte ich ein paar Jungs aus dem zweiten Semester aufgetrieben, mit denen ich abhängen konnte, aber … die waren auch ziemlich langweilig. Das Einzige, was für sie sprach, war ihr Bier.“
„Warum … warum hat dein Dad dich hergebracht?“, fragte Lissa. „Warum bist du nicht … ich weiß nicht, auf dem College?“
Avery gab ein schrilles Lachen von sich. „Er vertraut mir nicht mehr genug. Als wir bei Hofe waren, hatte ich was mit einem süßen Jungen, der dort arbeitete – natürlich keiner von den Royals. Dad ist völlig ausgeflippt, aus Angst, die Leute könnten es herausfinden. Als er dann den Job hier bekam, nahm er mich eben mit, um mich im Auge zu behalten – und mich zu foltern. Ich glaube, er befürchtet, dass ich mit einem Menschen durchbrennen könnte, wenn ich aufs College gehe.“ Sie seufzte. „Ich schwöre bei Gott, wenn Reed nicht hier wäre, würde ich einfach abhauen, garantiert.“
Lissa schwieg lange. Sie war Avery geflissentlich aus dem Weg gegangen. Bei all den Befehlen, die Lissa in letzter Zeit von der Königin erhielt, schien das ihre einzige Möglichkeit zu sein, sich zu wehren und zu verhindern, dass sie ständig kontrolliert wurde. Aber jetzt fragte sie sich ernsthaft, ob sie sich in Avery womöglich getäuscht hatte. Avery wirkte nicht wie einer von Tatianas Spionen. Sie wirkte nicht wie jemand, der Lissa zu einem perfekten Royal umformen wollte. Im Grunde wirkte Avery wie ein trauriges, verletztes Mädchen, dessen Leben aus dem Ruder lief. Wie jemand, der genauso herumkommandiert wurde wie Lissa in letzter Zeit.
Mit einem tiefen Atemzug sprudelten die Worte aus Lissa heraus. „Willst du morgen mit Christian und mir zu Mittag essen? Niemand hätte etwas dagegen, wenn du zu unserer Mittagspause kommst. Ich kann dir allerdings nicht versprechen, dass es so, äh, aufregend wird, wie du es dir wünschst.“
Avery lächelte abermals, doch diesmal war das Lächeln weniger verbittert. „Nun, eigentlich hatte ich geplant, mich allein in meinem Zimmer zu betrinken.“ Sie zog aus ihrer Handtasche eine Flasche mit
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