Vampire Academy 04
verteidigen zu können. Aber ich würde meine Fähigkeiten lieber zur Verteidigung meiner Familie einsetzen als zur Verteidigung der Moroi. Ich schätze, das klingt“, sie suchte nach dem richtigen Wort, „sexistisch? Aber die Männer werden Wächter, und die Frauen bleiben zu Hause. Nur mein Bruder ist weggegangen.“
Beinahe wäre ich gestolpert. „Dein Bruder?“, fragte ich in einem möglichst ruhigen Tonfall.
„Dimitri“, sagte sie. „Er ist älter als ich und schon seit einer ganzen Weile Wächter. Er ist übrigens drüben in den Staaten. Wir haben ihn schon sehr lange nicht mehr gesehen.“
„Hm.“
Ich fühlte mich schrecklich und hatte ein schlechtes Gewissen. Ein schlechtes Gewissen, weil ich Viktoria und den anderen die Wahrheit vorenthielt. Schrecklich, weil sich anscheinend noch niemand von St. Vladimir die Mühe gemacht hatte, seine Familie zu benachrichtigen. Viktoria, die bei ihren Erinnerungen lächelte, bemerkte meinen Stimmungswechsel nicht.
„Tatsächlich sieht Paul sogar genauso aus wie Dimitri in seinem Alter. Ich sollte dir Fotos von ihm zeigen – und auch einige jüngere Aufnahmen. Dimitri ist ziemlich süß. Ich meine, für einen Bruder.“
Ich war absolut sicher, dass es mir das Herz aus der Brust reißen würde, wenn ich Fotos von Dimitri als kleinem Jungen anschauen müsste. So wie die Dinge lagen, fühlte ich mich immer erbärmlicher, je mehr Viktoria von ihm erzählte. Sie hatte keinen Schimmer, was geschehen war, und auch wenn sie ihn seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, war klar, dass sie und der Rest der Familie ihn über alles liebten. Das war natürlich keine Überraschung. (Denn mal ehrlich, wer könnte Dimitri nicht lieben?) Schon dieser eine Morgen in ihrer Gesellschaft hatte mir gezeigt, wie nah sie sich alle standen. Aus Dimitris Geschichten wusste ich, dass auch er seine Familie vergötterte.
„Rose? Ist alles in Ordnung mit dir?“ Viktoria beäugte mich voller Sorge, wahrscheinlich weil ich in den letzten zehn Minuten kein Wort gesagt hatte.
Wir waren einmal im Kreis gegangen und fast wieder bei ihr zu Hause angekommen. Als ich sie ansah, ihr offenes, freundliches Gesicht mit diesen Augen, die Dimitris so sehr ähnelten, wurde mir klar, dass ich noch eine andere Aufgabe zu erledigen hatte, bevor ich mich auf die Suche nach Dimitri machen konnte, wo immer er auch sein mochte. Ich schluckte.
„Ich … ja. Ich denke … ich denke, ich sollte mich mal mit dir und dem Rest deiner Familie zusammensetzen.“
„Okay“, antwortete sie, die Sorge war noch in ihrer Stimme zu hören.
Im Haus machten Olena und Karolina sich in der Küche zu schaffen. Ich vermutete, dass sie Pläne für das Abendessen schmiedeten, was angesichts der Tatsache, dass wir soeben ein gewaltiges Frühstück beendet hatten, doch recht verblüffend war. An die Art, wie man hier aß, hätte ich mich definitiv gewöhnen können. Im Wohnzimmer baute Paul eine kunstvolle Rennstrecke aus Legosteinen auf. Jewa saß in einem Schaukelstuhl, strickte ein Paar Socken und schien die klischeehafteste Großmutter der Welt zu sein. Allerdings sahen die meisten Großmütter nicht eben so aus, als könnten sie einen mit einem einzigen Blick in Flammen aufgehen lassen.
Olena unterhielt sich auf Russisch mit Karolina, wechselte jedoch ins Englische, als sie mich sah. „Ihr zwei seid früher zurück, als ich erwartet hatte.“
„Wir haben uns die Stadt angesehen“, sagte Viktoria. „Und … Rose möchte mit euch reden. Mit uns allen.“
Olena sah mich ebenso verwirrt und besorgt an wie zuvor Viktoria. „Was ist denn los?“
Das Gewicht der Blicke all dieser Belikovs … mein Herz schlug mir bis zum Hals. Wie sollte ich das bloß anstellen? Wie sollte ich etwas erklären, worüber ich seit Wochen nicht gesprochen hatte? Ich konnte nicht ertragen, es ihnen – oder mir selbst – zuzumuten. Als Jewa hereingeschlurft kam, verschlimmerte das die Situation noch um einiges. Vielleicht hatte sie irgendeinen mystischen Sinn dafür, dass etwas Großes anstand.
„Wir sollten uns erst mal hinsetzen“, sagte ich.
Paul blieb im Wohnzimmer, wofür ich sehr dankbar war. Denn ich war mir ziemlich sicher, dass ich nicht sagen konnte, was ich zu sagen hatte, während mich ein kleines Kind beobachtete – eins, das offenbar auch noch wie Dimitri früher mal aussah.
„Rose, was ist los?“, fragte Olena. Sie sah so lieb aus und, na ja … mütterlich, dass mir beinahe die Tränen kamen. Wann immer ich wütend
Weitere Kostenlose Bücher