Vampire Academy 06 ● Schicksalsbande
setzte sie einen nach dem anderen an verschiedenen Ausgangspunkten ab. Mit jedem Kandidaten, der sich verabschiedete, wuchs Lissas Furcht. Es gibt keinen Grund zur Sorge, dachte sie. Ich muss lediglich einen sonnigen Tag überstehen. Sie war die vorletzte Person, die abgesetzt wurde. Nur Ariana blieb noch zurück – und tätschelte Lissa den Arm, als sich die Tür des Vans öffnete.
„Viel Glück, meine Liebe!“
Lissa warf ihr schnell ein Lächeln zu. Die Sache mochte für Lissa nur ein Spiel sein, mit dem sie Zeit gewinnen wollte, aber für Ariana ging es ums Ganze, und Lissa betete darum, dass die ältere Frau diese Prüfung bestünde.
Als der Van weiterfuhr und sie allein zurückblieb, breitete sich ein Gefühl des Unbehagens in Lissa aus. Die einfache Prüfung ihrer Ausdauer erschien ihr plötzlich viel erschreckender und auch wesentlich schwieriger. Sie war auf sich allein gestellt, was ja nicht sehr oft geschah. Während des größten Teils ihres Lebens war immer ich da gewesen, und selbst nach meinem Weggang hatte sie noch Freunde um sich herum gehabt. Aber jetzt? Jetzt waren es nur sie, die Karte und das Handy. Und das Handy war ihr Feind.
Sie ging zum Waldrand und studierte ihre Karte. Die Zeichnung einer großen Eiche markierte den Anfang, daneben stand die Anweisung, in nordwestlicher Richtung zu gehen. Lissa ließ den Blick über die Bäume schweifen und sah drei Ahornbäume, eine Fichte und – eine Eiche. Während sie darauf zuging, konnte sie sich ein Lächeln nicht verkneifen. Wenn noch jemand botanische Hinweise bekommen hatte und sich nicht mit Pflanzen und Bäumen auskannte, dann konnte der Betreffende seine Kandidatur gleich hier vergessen.
Der Kompass war noch ein klassischer. Kein bequemes digitales GPS. Lissa hatte nie zuvor einen Kompass wie diesen benutzt, und der Teil von mir, der sie beschützen wollte, wünschte sich, ihr beispringen und helfen zu können. Ich hätte es jedoch besser wissen müssen. Lissa war klug und kam mühelos mit dem Kompass zurecht. Sie trat in nordwestlicher Richtung in den Wald. Obwohl es keinen richtigen Pfad gab, war der Waldboden nicht allzu sehr überwuchert und wies auch sonst nicht viele Hindernisse auf.
Das Schöne daran, im Wald zu sein, war die Tatsache, dass die Bäume die Sonne ein wenig abblockten. Trotzdem waren es keine idealen Bedingungen für einen Moroi. Aber es schien bei Weitem besser, als in einer Wüste ausgesetzt zu werden. Vögel sangen, und die Landschaft war üppig und grün. Lissa hielt auf der Suche nach dem nächsten Hinweis die Augen offen und versuchte gleichzeitig, sich zu entspannen und sich einzureden, sie unternehme lediglich eine angenehme Wanderung.
Und dennoch .... es fiel ihr schwer, so zu tun, während ihr so viel im Kopf herumging. Abe und unsere anderen Freunde waren jetzt dafür zuständig, Fragen nach dem Mord zu stellen. Sie alle schliefen im Augenblick – für Moroi war es mitten in der Nacht –, aber Lissa wusste nicht, wann sie zurückkehren würde, und konnte nicht umhin, diese Prüfung lästig zu finden, weil sie einfach Zeit kostete. Nein, sie verschwendete ihre Zeit. Sie hatte die Logik, die hinter der Nominierung ihrer Freunde stand, letztlich akzeptiert – aber es gefiel ihr trotzdem nicht. Sie wollte ihnen mit Tatkraft helfen.
Ihre aufgewühlten Gedanken hätten sie beinahe an ihrem nächsten Ziel vorbeilaufen lassen: einem Baum, der vor Ewigkeiten umgestürzt war. Er war mit Moos bedeckt, und ein Großteil des Holzes war verrottet. Ein Stern auf der Karte markierte ihn als eine Stelle mit einem Hinweis. Sie drehte die Karte um und las:
Ich wachse, und ich schrumpfe. Ich laufe, und ich krieche.
Folge meiner Stimme, obwohl ich keine habe.
Ich gehe niemals von hier fort, ich reise jedoch umher –
ich treibe durch den Himmel, und ich krieche auf dem Boden.
Ich habe mein geheimes Lager in einem Gewölbe, obwohl ich keinen Reichtum besitze.
Suche, was vermodert, und bewahre deine Gesundheit.
Hm.
Ungefähr an diesem Punkt leerte sich mein Bewusstsein vollständig, aber Lissas Gedanken wirbelten weiter durcheinander. Sie las die Zeilen wieder und wieder und untersuchte die einzelnen Worte und wie sich die Zeilen gegenseitig ausspielten. Ich gehe niemals von hier fort. Das war der Ausgangspunkt, befand sie. Etwas Dauerhaftes. Sie sah sich um, betrachtete die Bäume und verwarf sie dann wieder. Bäume konnten jederzeit gefällt und entfernt werden. Darauf bedacht, sich nicht allzu weit von dem
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