Vampire Academy 06 ● Schicksalsbande
auszuharren, bis wir Sie holen kommen.“
Lissa und die anderen Kandidaten wechselten Blicke, dann sahen sie fast gleichzeitig zu den Fenstern des Vans hinaus. Es war beinahe Mittag, und die Sonne brannte vom Himmel. „Bei Tageslicht ausharren“ wäre zwar nicht gerade angenehm, klang aber auch nicht unmöglich. Müßig kratzte sie an dem kleinen Verband an ihrem Arm herum und nahm die Hand dann rasch wieder weg. Aus ihren Gedanken las ich, was es war: ein winziger, kaum wahrnehmbarer Punkt, den man ihr auf die Haut tätowiert hatte. Die Tätowierung ähnelte tatsächlich derjenigen Sydneys: Blut und Erde, gemischt mit Zwang. Zwang mochte unter Moroi ja tabu sein, aber das hier war eine ganz besondere Situation. Der Zauber in der Tätowierung hinderte die Kandidaten daran, anderen, die mit der Prozedur nichts zu tun hatten, Einzelheiten über die Prüfungen zu offenbaren. Dies war die erste Prüfung.
„In was für ein Gelände schicken Sie uns?“, wollte Marcus Lazar wissen. „Wir sind doch nicht alle in der gleichen körperlichen Verfassung. Es ist nicht fair, wenn einige von uns einen Vorteil haben.“ Beim Sprechen wanderte sein Blick zu Lissa.
„Sie werden tatsächlich ziemlich weit laufen müssen“, erwiderte der Wächter mit ernster Miene. „Aber eigentlich sollte das jeder Kandidat – jeden Alters – ohne Weiteres schaffen. Und um ehrlich zu sein, zu den Anforderungen für einen König oder eine Königin gehört auch ein gewisses Maß an Durchhaltevermögen. Das Alter bringt zwar Weisheit, aber ein Monarch muss auch gesund sein. Er braucht auf keinen Fall ein Athlet zu sein“, fügte der Wächter hastig hinzu, als er sah, dass Marcus den Mund öffnete. „Aber den Moroi wäre kaum damit gedient, wenn ein kränklicher Monarch gewählt wird, der binnen eines Jahres stirbt. Das ist zwar hart, aber wahr. Und Sie müssen auch in der Lage sein, unangenehme Situationen zu ertragen. Wenn Sie mit einem Tag in der Sonne nicht fertig werden, können Sie auch nicht mit einer Ratssitzung fertig werden.“ Das sollte wohl ein Scherz sein, aber ob tatsächlich, war schwer zu sagen, da er nicht lächelte. „Es ist jedoch kein Wettrennen. Lassen Sie sich Zeit damit, ihr Ziel zu erreichen, wenn Sie diese Zeit brauchen. Auf der Karte sind Stellen markiert, an denen bestimmte Gegenstände versteckt sind – Gegenstände, die Ihnen die Prüfung erträglicher machen, falls Sie die Hinweise entziffern können.“
„Dürfen wir denn unsere Magie einsetzen?“, fragte Ariana Szelsky. Sie war zwar auch nicht jung, wirkte aber zäh und durchaus bereit für einen Härtetest.
„Ja, das dürfen Sie“, erwiderte der Wächter ernst.
„Droht uns dort draußen Gefahr?“, fragte ein anderer Kandidat, Ronald Ozera. „Abgesehen von der Sonne?“
„Das“, sagte der Wächter kryptisch, „müssen Sie schon selbst herausfinden. Aber falls Sie zu irgendeinem Zeitpunkt abbrechen wollen .... “ Er förderte einen Beutel mit Handys zutage und verteilte sie. Karten und Kompasse folgten. „Rufen Sie die einprogrammierte Nummer an, und wir kommen Sie holen.“
Niemand brauchte sich zu erkundigen, welche verborgene Botschaft wohl hinter diesen Worten steckte. Das Wählen der Nummer würde den Betreffenden vor einem langen, anstrengenden Tag bewahren. Es würde außerdem bedeuten, dass derjenige durch die Prüfung gefallen war und nicht mehr für den Thron kandidierte. Lissa blickte auf ihr Telefon und war halb überrascht darüber, überhaupt Empfang zu haben. Sie hatten den Hof vor etwa einer Stunde verlassen und waren nun weit draußen auf dem Land. Eine Baumreihe brachte Lissa auf den Gedanken, dass sie sich ihrem Ziel näherte.
Also. Eine Prüfung körperlichen Durchhaltevermögens. Es war nicht ganz das, was sie erwartet hatte. Die Tests, die ein Monarch durchlief, waren seit langer Zeit von einem Geheimnis umgeben gewesen und hatten inzwischen einen beinahe mystischen Ruf erlangt. Das war jetzt eine ziemlich praktische Prüfung, und Lissa erkannte die Logik dahinter, auch wenn Marcus es nicht tat. Es war eigentlich kein sportlicher Wettbewerb, und der Wächter hatte recht damit, dass ein zukünftiger Monarch ein gewisses Maß an Fitness aufweisen sollte. Als Lissa sich die Rückseite der Karte ansah, wo die Hinweise aufgelistet waren, begriff sie, dass die Prüfung zudem ihre logischen Fähigkeiten auf die Probe stellte. Alles sehr grundlegende Dinge – und überaus wichtig für das Regieren einer Nation.
Der Van
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