Vampire Academy 06 ● Schicksalsbande
konnte, was er als Nächstes tat. Nicht, dass ich etwas hätte sehen müssen. Er jagte hinter mir her.
Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, schob ich den verlassenen Putzwagen vor die Tür unseres Zimmers und sprintete den Flur hinunter. Zwei Sekunden später wurde die Tür geöffnet, und ich hörte einen verärgerten Aufschrei – und dazu ein sehr, sehr böses Wort auf Russisch, als er gegen den Putzwagen rannte. Es würde ihn zwar nur wenige Sekunden kosten, den Wagen beiseitezuschieben, aber mehr benötigte ich auch nicht. Wie der Blitz raste ich die Treppe hinunter und in die schäbige Lobby, wo ein gelangweilter Rezeptionist gerade dabei war, ein Buch zu lesen. Er sprang beinahe von seinem Stuhl, als ich durch die Halle fegte.
„Da ist ein Mann hinter mir her!“, rief ich, während ich zur Tür hinauslief.
Der Rezeptionist sah eigentlich nicht wie jemand aus, der versuchen würde, sich Dimitri in den Weg zu stellen, und ich hatte das Gefühl, dass Dimitri ohnehin nicht stehen bliebe, wenn der Mann ihn darum bitten würde. Im Extremfall würde der Mann die Polizei rufen. In dieser Stadt bestand die POLIZEI wahrscheinlich aus einem einzigen Mann und einem Hund.
Trotzdem sollte das jetzt nicht länger meine Sorge sein. Ich war aus dem Motel entkommen und befand mich nun mitten in einer verschlafenen Bergstadt, deren Straßen in tiefe Dunkelheit getaucht waren. Dimitri mochte direkt hinter mir sein, aber als ich in einen Wald in der Nähe rannte, wusste ich, dass es mir nicht schwerfallen würde, ihn in der Dunkelheit abzuschütteln.
7
Das Problem war natürlich, dass ich mich selbst in der Dunkelheit schnell verirrte.
Nachdem ich in der Wildnis von Montana gelebt hatte, war ich eigentlich daran gewöhnt, dass man ganz und gar von der Nacht verschluckt werden konnte, sobald man selbst dem winzigsten Hauch von Zivilisation den Rücken kehrte. Ich war sogar daran gewöhnt, durch stockfinstere Wälder zu wandern. Aber das Gelände um St. Vladimir herum war mir vertraut gewesen. Die Wälder von West Virginia waren dagegen neu und fremd, und so hatte ich vollkommen die Orientierung verloren.
Sobald ich mir ziemlich sicher war, dass ich genug Distanz zwischen mich und das Motel gebracht hatte, blieb ich stehen und sah mich um. Nächtliche Insekten summten und sangen, und eine drückende Sommerschwüle umgab mich. Als ich durch den belaubten Baldachin der Bäume hinaufblickte, sah ich einen Himmel voller strahlender Sterne, vollkommen unberührt von städtischen Lichtern. Ich kam mir wie eine echte Überlebende der Wildnis vor und betrachtete die Sterne, bis ich den Großen Bären fand und einschätzen konnte, welche Richtung Norden war. Die Berge, durch die uns Sydney gefahren hatte, hatten im Osten gelegen, also wollte ich gewiss nicht in diese Richtung gehen. Es schien mir dagegen ganz vernünftig, dass ich, wenn ich nach Norden wanderte, irgendwann auf eine Autobahn treffen und entweder per Anhalter oder zu Fuß in die Zivilisation zurückkehren könnte. Es war zwar kein wasserdichter Plan, aber es war andererseits auch nicht der schlimmste Plan, den ich je gehabt hatte, bei Weitem nicht.
Für einen Fußmarsch war ich absolut nicht gekleidet, doch als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, gelang es mir, den meisten Bäumen und anderen Hindernissen auszuweichen. Es wäre einfacher gewesen, der winzigen Straße zu folgen, die aus der Stadt hinausführte – aber das war auch das, was Dimitri von mir erwarten würde.
Ich verfiel in einen stetigen, unbewussten Rhythmus, während ich nach Norden marschierte. Dann kam ich aber zu dem Schluss, dass es jetzt eine gute Zeit wäre, nach Lissa zu schauen, da ich nichts anderes zu tun hatte und auch keine Wächter da waren, die mich hätten verhaften wollen. Ich schlüpfte in ihren Geist und fand sie tief im Hauptquartier der Wächter. Sie hielt sich gerade in einem Flur auf, an dessen Wänden sich Stühle reihten. Andere Moroi saßen in der Nähe, darunter Christian und Tasha.
„Sie werden euch ziemlich in die Mangel nehmen“, murmelte Tasha. „Vor allem dich.“ Letzteres galt Christian. „An dich würde ich als Ersten denken, wenn irgendetwas verbotenerweise in die Luft fliegt.“ Das war offenbar die allgemeine Ansicht. Dem besorgten Ausdruck auf ihrem Gesicht nach zu schließen, war Tasha von meiner Flucht wohl genauso überrascht worden wie ich selbst. Auch wenn meine Freunde sie noch nicht in die ganze Geschichte eingeweiht hatten, so
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