Vampire schlafen fest
Gejammer des Vampirs Michael wegen seines verdammten Fangzahns.
Nichts war wie am Abend zuvor, obwohl die Verhandlungen im selben Saal stattfanden. Die Vorsitzenden Richter - so sagte man doch? - saßen an einem langen Tisch auf der Bühne, mit dem Gesicht zum Publikum. Es waren drei, alle aus verschiedenen Bundesstaaten: zwei Männer und eine Frau. Einer von ihnen war Bill, der (wie immer) ruhig und gelassen wirkte. Den anderen Mann, einen Blonden, kannte ich nicht. Die Frau war eine hübsche kleine Vampirin mit der aufrechtesten Haltung und dem längsten gelockten schwarzen Haar, das ich je gesehen hatte. Ich hörte, dass Bill sie mit »Dahlia« ansprach. Ihr rundes Gesicht ging hin und her, während sie zuerst Jodis Aussage und dann Michaels anhörte, gerade so, als würde sie ein Tennisspiel ansehen. Vor den Richtern, mitten auf dem weißen Tischtuch, lag ein Pfahl, vermutlich das Symbol der Gerechtigkeit unter Vampiren.
Die beiden beschwerdeführenden Vampire wurden nicht von Rechtsanwälten vertreten. Sie sagten, was sie zu sagen hatten, und dann stellten die Richter Fragen, ehe sie zu einer Entscheidung durch Mehrheitsvotum kamen. Es war alles sehr einfach, der Form und dem Verfahren nach.
»Sie haben eine Menschenfrau gefoltert?«, fragte Dahlia Michael.
»Ja«, sagte er, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich sah mich um. Ich war der einzige Mensch unter den Zuschauern. Kein Wunder, dass das Verfahren so einfach gehalten wurde. Die Vampire sahen keinen Anlass, sich für ein lebendiges, emotionsgeladenes Publikum Mühe zu geben. Sie verhielten sich so, als wären sie ganz unter sich. Ich saß bei denen meiner Delegation, die ebenfalls anwesend waren - Rasul, Gervaise, Cleo. Vielleicht überdeckte ihre Nähe meinen Geruch, vielleicht zählte aber ein zahmer Mensch allein auch einfach nicht.
»Sie hat mich beleidigt, und mir gefällt Sex auf diese gewisse Weise, also habe ich sie entführt und mich ein wenig mit ihr amüsiert«, sagte Michael. »Und dann geht Jodi wie eine Wilde auf mich los und bricht mir einen Fangzahn heraus. Sehen Sie?« Er öffnete den Mund so weit, dass alle Richter seinen Zahnstumpf erkennen konnten. (Ob er sich wohl schon an dem Messestand umgesehen hatte, der diese erstaunlichen Fangzahn-Prothesen anpries?)
Michael hatte das Gesicht eines Engels, aber er verstand einfach nicht, was an seinem Verhalten falsch war. Er hatte sich so verhalten wollen, also hatte er es getan. Nicht alle, die zu Vampiren gemacht werden, sind psychisch stark genug, und manche wissen noch Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte später nicht, dass sie mit Menschen nicht einfach verfahren dürfen, wie es ihnen passt. Trotzdem genießen sie die Offenheit der neuen Ordnung, streifen klar als Vampire erkennbar durch die Welt und bestehen auf dem Recht, nicht gepfählt zu werden. Sie wollten alle Vorteile genießen, ohne sich auf die allgemeingültigen Regeln der Gesellschaft einzulassen.
Da war ein abgebrochener Fangzahn doch eine milde Strafe, fand ich. Unglaublich, dass Michael meinte, sich hier noch über die Frau beschweren zu können. Offenbar sah Jodi das genauso, denn sie war aufgesprungen und wollte schon wieder auf ihn losgehen. Anscheinend hatte sie es auch noch auf seinen anderen Fangzahn abgesehen. Das war ja besser als jede TV-Gerichtsshow.
Der blonde Richter packte sie und warf sie zu Boden. Er war viel größer als Jodi, und sie schien zu akzeptieren, dass sie ihn nicht abschütteln konnte. Bill hatte seinen Stuhl zurückgeschoben, damit auch er jederzeit aufspringen konnte, falls die weiteren Entwicklungen ein rasches Eingreifen erforderten.
Die kleine Dahlia fragte: »Warum verurteilen Sie Michaels Verhalten so sehr, Jodi?«
»Die Frau, die er gequält hat, war die Schwester eines meiner Angestellten«, sagte Jodi mit vor Wut bebender Stimme. »Sie stand unter meinem Schutz. Der dämliche Michael bringt es noch dahin, dass auf uns alle wieder Jagd gemacht wird, wenn er so weitermacht. Er ist unbelehrbar. Nichts hält ihn auf, nicht mal, dass er einen Fangzahn eingebüßt hat. Ich hatte ihn dreimal gewarnt, sich von ihr fernzuhalten, und die Frau hat ihm eine passende Antwort gegeben, als er ihr auf der Straße ein zweideutiges Angebot gemacht hat. Doch sein Stolz ist ihm wichtiger als alles kluge oder diskrete Verhalten.«
»Ist das wahr?«, fragte die kleine Vampirin Michael.
»Sie hat mich beleidigt, Dahlia«, erwiderte er sanft. »Ein weiblicher Mensch hat mich in aller Öffentlichkeit
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