Vampire's Kiss
blauen Flächen vor. Ich sah mich selbst als unendlich winzigen Punkt irgendwo in der Nordsee – voller Mut und Lebenskraft, keineswegs besiegt, keineswegs ertrunken. Mein Herzschlag verlangsamte sich.
»Und nun in Rückenlage«, sagte er.
Ich entspannte mich, legte den Kopf in den Nacken und spürte, wie mein Bauch langsam an die Oberfläche trieb. Jetzt, da ich auf dem Rücken lag, sehnte ich mich nach der Dünung, nach dem Gefühl, auf und ab zu schaukeln. Ich breitete die Arme weit aus, malte mir aus, ich sei ein Seestern.
»Versuch deinen Atem unter Kontrolle zu bringen. Langsam ausatmen und halten. Dann über Zwerchfell und Bauch tief einatmen.«
Ich befolgte seine Anweisungen, ohne die Augen zu öffnen. Meine Bauchdecke wölbte sich bei jedem Einatmen. Der Neoprenanzug kühlte sich an der Oberseite ab. Ich wurde immer ruhiger. Vage überlegte ich, ob ich diesen Zustand aus eigener Kraft erreicht oder ob er irgendwie seine Magie eingesetzt hatte, um mir die Panik zu nehmen. Aber im Grunde war das unwichtig. Ich war jetzt wohlig müde, ein Meeresgeschöpf, das träge in den Fluten trieb. Vielleicht konnte ich so von der Insel entkommen – ich würde einfach immer weiter wegdriften.
Eine Hand umfasste meinen Knöchel. Ich spürte einen Ruck. Meine locker ausgebreiteten Arme durchschnitten das Wasser und schlugen hinter meinem Kopf zusammen, als ich näher an das Boot herangezogen wurde. Ich hatte mich unbemerkt ein Stück von unserem Kahn entfernt.
Ronans Hand glitt zu meiner Wade und stützte sie eine ganze Weile von unten. Wollte er nicht loslassen, oder hatte sich mein Zeitgefühl einfach verlangsamt?
Oder wandte er seinen Trick an? Ich war jetzt total ruhig und gelassen. Mein Atem ging so langsam, als sei ich kurz vor dem Einschlafen. Da erst begriff ich, dass ich die Luft tatsächlich sehr lang anhalten konnte.
Endlich ließ Ronan los. Ich hörte ein Klappern. Wasser spritzte auf. Er hatte die Ruder eingesetzt.
Ich blinzelte. Der graue Himmel wirkte etwas dunkler als zuvor. Wie lange hatte ich mich so auf dem Wasser treiben lassen? Mit einem Kopfschütteln richtete ich mich auf und umklammerte den Bootsrand.
Ronan sah mich mit einem wissenden Lächeln an. Wieder hatte er mir eine neue Herausforderung zugetraut, und wieder hatte er recht behalten.
Ich warf ihm einen finsteren Blick zu, weil ich ihm diesen neuerlichen Sieg nicht gönnte.
»Was ist los?«, wollte er wissen.
»Du lächelst.«
Die kleinen Fältchen um seine Augen vertieften sich. »Und das ist schlimm?«, fragte er verblüfft.
»Wenn du lächelst, erinnerst du mich an einen Piraten.«
Diesmal lachte er laut. »Jetzt aber ins Boot mit dir!«
Ich schämte mich für meine unbedachten Worte von vorhin, die unsere Stimmung so verdüstert hatten. »Heißt das, dass du mir verzeihst?«
Er sah mich lange an. »Es heißt, dass ich dich und deine Talente besser kenne als du selbst.«
Ich nahm das stillschweigend als Ja.
Ich verlangsamte meine Schritte. Yasuo und Josh saßen auf der niedrigen Steinmauer vor dem Kunst-Pavillon, ließen die Beine baumeln und quatschten gemütlich. Irgendwie erinnerten sie eher an zwei College-Lümmel als an das, was sie wirklich waren – Rekruten in einem tödlichen Vampir-Ausbildungsprogramm.
Ich wandte mich Josh zu. Beim Anblick meines sogenannten Tutors fuhr ich sämtliche Stacheln aus. Es war Zeit für den Tanzkurs, was ich schon schlimm genug fand. Aber diesen Vampiren sah es durchaus ähnlich, mich Wirtschaftsdeutsch pauken und gleichzeitig einen bayerischen Volkstanz einüben zu lassen.
»Was machst du hier?«, fragte ich misstrauisch. »Hatten wir nicht vereinbart, uns erst nächste Woche zu treffen?«
»Erst mal Gidday !«
Ich fand diesen klischeehaften Aussie-Gruß ätzend, und das wusste er ganz genau.
»Ist es dir angeboren, andere Leute in den Wahnsinn zu treiben, oder hast du das in Harvard studiert?«
»Ein Hauptfach braucht jeder«, meinte er, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen, und dann zwinkerte er mir doch tatsächlich zu.
Wieder einmal schaffte es der Mistkerl, mich gegen meinen Willen zum Lachen zu bringen.
»Locker bleiben, kleine D.« Yasuo sprang zu Boden und klopfte sich den Mauerstaub von der Hose. »Er leistet mir nur Gesellschaft. Obwohl ich keine Ahnung hatte, dass dein bloßes Erscheinen –«, er boxte Josh gegen den Arm, »– unsere Blondie so aus dem Häuschen bringen würde. Ich brauche eine gut gelaunte Tanzpartnerin, wenn ich das Sommersemester bestehen
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