Vampire's Kiss
Glück würde er sich plötzlich umdrehen, Erwischt! schreien und mich zum Toilettenputzen verdonnern –, bog er unvermittelt auf einen winzigen Strandpfad ab, den ich bisher nie gesehen hatte.
Und dann marschierte er landeinwärts, auf die andere Seite der Insel zu.
Ich überlegte nicht zweimal, sondern schlich hinter ihm her.
Aber dann verließ er den Pfad, und mich beschlich ein mulmiges Gefühl.
Acari dürfen nicht vom Weg abweichen. Das war eine tragende Säule im Regelwerk der Vampire. Meine Muskeln verkrampften sich vor Nervosität, und ich verlangsamte meine Schritte. Ich hatte inzwischen gelernt, die Regeln strikt zu befolgen, weil sie ein Garant für mein Überleben waren.
Ronan hatte mich außerdem vor der anderen Seite der Insel gewarnt. Konnte es sein, dass er sich dorthin begab? Machte er einen Besuch bei seiner Familie?
Vielleicht trieb mich auch die Neugier, den wahren Ronan kennenzulernen. Und vielleicht hatte ich irgendwo im Hinterkopf den Gedanken, dass mir nichts zustoßen konnte, weil mich Alcántara schützen würde, bevor es zum Äußersten kam. Wie auch immer, ich blieb ihm auf den Fersen.
Je weiter landeinwärts wir vordrangen, desto vertrackter wurde die Verfolgung. Ich konnte ihn auch noch aus großer Entfernung erkennen – es war verrückt, doch diese ganze Episode machte mir bewusst, wie sehr sich meine Sehschärfe verbessert hatte, seit ich das Vampirblut trank. Aber die Bäume und Felsen wurden immer spärlicher, und ich verlor Ronan häufig aus den Augen, weil ich weit zurückbleiben musste, damit er mich nicht entdeckte.
Schließlich blieben die Klippen der Küstenlinie ganz zurück, und die Landschaft bestand nur noch aus öden Geröllebenen. Ronans Vorsprung vergrößerte sich.
Aber Sucher Judge hatte uns im Phänomenologie-Unterricht des letzten Semesters auch die Grundzüge der Geländebeobachtung erklärt. Ich hatte gelernt, fremde Spuren zu lesen und eigene Spuren zu vermeiden. Bislang hatte Anfängerwissen gereicht, um Ronan auf den Fersen zu bleiben. Doch ab jetzt würde ich all meine neuen Kenntnisse einsetzen müssen.
Ich suchte das Terrain nach sogenannten Spurenfallen ab – bestimmten Stellen im Boden, die sich zum Fährtenlesen anboten, weil sie Fußabdrücke gut sichtbar machten oder lange festhielten. Sumpfiges Gelände, Schlamm oder, wie in meinem Fall, feiner Kies.
Es war nicht schwer, einen solchen Fleck zu entdecken. Ronans Fußspuren zeichneten sich deutlich als schwache Vertiefungen ab, in denen sich etwas Feuchtigkeit gesammelt hatte – dunkelgraue Mulden zwischen hellerem Gras.
Ich kauerte nieder, um die Fährte genauer zu betrachten. Wind war aufgekommen. Er würde die Spuren bis zum Ende des Tages zerstören. Bei Sonnenschein wären die verräterischen dunklen Mulden sogar schon nach zwei Stunden verschwunden gewesen.
Ich folgte der Fährte nach Nordwesten. Hin und wieder verlor ich sie, aber nie für lange. Und dann veränderte sie sich. Wieder ging ich in die Hocke, um sie zu untersuchen.
Da war ein neues Muster, das sich nur in tieferen Kiesschichten zeigte. Seine Zehen gruben sich mit mehr Druck in den Untergrund, und rund um die Fersen spritzten die Steinchen nach allen Seiten weg. Ronan schien jetzt zu joggen.
Ich zwang mich, ruhig zu bleiben, obwohl meine Nerven ein wenig flatterten. Warum hatte er das Tempo verschärft? Spürte er, dass ihn jemand beschattete? Wusste er, dass ich dieser Jemand war?
Vielleicht trieb ihn aber auch die Sehnsucht vorwärts. Er hatte Amanda einen Schlüssel gegeben. Vielleicht war er auf dem Weg zu ihr, zu ihrem heimlichen Treffpunkt.
Die Fußspuren veränderten sich erneut, sanken rechts etwas tiefer in den Boden ein als links. Er hatte die Richtung gewechselt, hielt jetzt wieder auf das Wasser zu, nach Nordosten.
Ich bohrte einen Daumen in das Erdreich, um Tiefe und Feuchtigkeit zu prüfen und mich zu vergewissern, dass die Fußabdrücke die wahre Geschichte erzählten. Denn wenn mich nicht alles täuschte, rannte er nun.
Ich wandte mich nach Osten und beschleunigte meine Schritte ebenfalls. Die Gegend wurde wieder hügelig. Gesteinsbrocken und Felsbuckel ragten aus dem Gelände. Plötzlich spürte ich ein kaltes Prickeln im Nacken. Ich fühlte mich beobachtet.
Ein Hirngespinst, redete ich mir ein. Konnte es sein, dass mir die Nerven einen Streich spielten? Ich sah mich gründlich um. Kein Mensch weit und breit. Ich kam mir albern vor, dass ich überhaupt einen Blick über die Schulter geworfen
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