Vampire's Kiss
hatte.
Und dann verfluchte ich mich. Ich hatte mich von meinen Gefühlen oder meiner Phantasie überwältigen lassen – und fand plötzlich die Spur nicht mehr. Dabei war das stets die Lektion Nummer eins gewesen: Niemals die Kontrolle aufgeben!
Hatte ich Ronan endgültig verloren? Mit einem Mal kam ich mir so allein vor, dass eine irrationale Panik in mir aufstieg. Als Neuling im Spurenlesen hatte ich beispielsweise noch nicht gelernt, das Alter einer Spur zu bestimmen. Angenommen, ich folgte einer Fährte, die bereits vor Wochen entstanden war? Oder ich war von Anfang an der falschen Fährte gefolgt?
Das Terrain wurde felsiger, je näher ich der Nordostküste der Insel kam. Es war eine Gegend, die ich noch nie gesehen hatte, weitab vom Campus und weitab von der Südküste mit jenen Häusern, die ich von Ronans Boot aus erspäht hatte.
Der Pfad, dem ich folgte, wand sich jetzt so eng um die Felsformationen, dass ich nicht sehen konnte, was sich hinter dem jeweils nächsten Vorsprung verbarg. Ich hatte Angst und lief deshalb zu schnell, die Blicke starr auf den Boden geheftet, in der verzweifelten Hoffnung, seine Spur wiederzufinden. Anfangs hatte ich nichts anderes im Sinn gehabt, als ihm heimlich nachzuspionieren. Jetzt dagegen wollte ich einfach nicht allein sein. Als ich aufschaute, entdeckte ich ihn. Zu nahe.
»Verdammter Mist.« Ich schlitterte durch das Geröll und warf mich hinter einen niedrigen Felsen. Das Herz schlug mir bis zum Hals.
Vorsichtig spähte ich hinter meiner Deckung hervor. Ronan hatte mich nicht gesehen. Im Schatten der Felsen wuchsen struppige Grasbüschel, die irgendwie fremdartig inmitten all der Grauschattierungen wirkten. Dahinter schien das Gelände senkrecht zum Meer hin abzufallen, das sich stahlgrau und dunstig bis zum Horizont erstreckte. Ronan bewegte sich zügig, aber nicht mehr im Laufschritt. Das wäre am Klippenrand auch alles andere als ratsam gewesen.
Doch dann verschwand er so unvermittelt, als sei er in die Tiefe gestürzt. Ich keuchte und schob mich vorsichtig so nahe wie möglich an die Abbruchkante heran. Da war er wieder, auf einem versteckten Pfad, der sich über die schroffe Granitwand zum Strand hinunterschlängelte.
Das verwaschene Grau des Dämmerlichts nahm dem Gelände die Konturen, und ich musste die Augen zusammenkneifen, um die zerklüfteten Felsen von den Schlammkuhlen und den Grasbüscheln zu unterscheiden, die sich zäh in den Spalten des windgepeitschten Kliffs festklammerten.
Ich konnte mich nicht näher an Ronan heranwagen, ohne entdeckt zu werden, aber ich starrte ihm angestrengt nach, bis mir alles vor den Augen zu flimmern begann. Und dann verschwand er ganz einfach.
Ich sah die Höhle nur, weil sich meine Augen allmählich an das Weißgrau gewöhnt hatten.
Auf Händen und Knien schob ich mich bis zum Klippenrand vor, schloss einen Moment lang die Augen und spähte dann erneut in die Tiefe. Der Pfad hatte sich so verengt, dass er vor dem Höhleneingang nicht breiter als ein Felsensims war. Die Höhle selbst wirkte wie ein schwarzer Fleck in der senkrechten Wand. Ihre Höhe ließ sich aus dieser Entfernung nur schwer abschätzen, und obwohl sie offensichtlich groß genug war, um Ronan aufzunehmen, hatte er sie wohl nur gebückt betreten können.
Er blieb endlos dort drinnen.
Der Himmel veränderte sich nicht, aber der Wind frischte auf, und mein Bauch gab rasch alle Wärme an den kalten, steinigen Untergrund ab. Frierend rieb ich die klammen Handflächen aneinander.
Ich überlegte, ob ich zum Campus zurückkehren sollte, aber letzten Endes setzte sich meine Neugier durch, und ich blieb. Außerdem war mir nicht recht wohl bei dem Gedanken, allein durch die öde Gegend zu laufen. Ich wollte zwar nicht, dass Ronan mich entdeckte, scheute aber auch davor zurück, mich allzu weit von ihm zu entfernen. Also konzentrierte ich mich auf den Höhleneingang und versuchte alle anderen Gedanken auszublenden. Wenn ich das Ganze als Meditationsübung betrachtete, konnte ich vielleicht der Kälte trotzen, meine Nerven beruhigen und meine unbequeme Lage auf der Klippenkante vergessen.
Etwas Helleres löste sich aus dem Schwarz. Ich blinzelte ein paarmal, um sicherzugehen, dass sich meine brennenden Augen nicht täuschten. Aber nein – es war tatsächlich Ronan, der die Höhle verließ.
Und er kam nicht allein. Aber die Gestalt an seiner Seite konnte nicht Amanda sein. Das erkannte ich an der Größe.
Sein Begleiter war ein Mann. Er stand gebeugt im
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