Vampirgeflüster
nicht erinnern konnte, gingen die Stufen hinunter und luden einige Holzbalken vom Pick-up. Die Teile waren bereits auf die richtige Länge zurechtgeschnitten. Whit drehte sich zum Wohnwagen um und rief etwas, und Arlene öffnete die Tür und kam auch heraus, mit der Handtasche über der Schulter. Sie ging auf die Fahrerkabine des Pick-up zu.
Herrgott, sie wollte einsteigen und wegfahren, während ihr eigener Wagen vorne parkte, so als wäre sie zu Hause! In diesem Moment erstarb auch der letzte Funke Freundschaft in mir, den ich für sie noch gehabt haben mochte. Ich sah auf meine Armbanduhr. Noch etwa drei Minuten, bis Andy kam.
Sie gab Whit einen Kuss und winkte dem anderen Mann zu, und dann verschwanden die beiden wieder im Wohnwagen, damit ich sie nicht sehen würde. Ihrem Plan zufolge würde ich von vorne kommen, an die Tür klopfen, und dann würde einer von ihnen mir öffnen und mich hineinzerren.
Und das wär's dann für mich.
Arlene öffnete die Tür des Pick-up, die Autoschlüssel in der Hand.
Arlene musste bleiben. Arlene war die Schwachstelle. Das erkannte ich mit all meinen Sinnen - verstandesmäßig, emotional und telepathisch.
Es würde schrecklich werden. Ich riss mich zusammen.
»Hi, Arlene«, rief ich, als ich aus meinem Versteck aufsprang.
Kreischend fuhr sie herum. »Jesus Christus, Sookie, was tust du denn in meinem Garten?« Sie machte ein großes Getue darum, sich wieder einzukriegen. Ihre Gedanken beherrschte ein Gewirr aus Wut, Angst und Schuldgefühl. Und Bedauern. Ja, das war auch darunter, ehrlich.
»Ich habe auf dich gewartet«, sagte ich und hatte keine Ahnung, was ich jetzt tun sollte. Aber ich hatte sie schon wieder etwas beruhigt. Vielleicht würde ich sie körperlich angehen müssen. Die beiden Männer im Wohnwagen hatten mein plötzliches Erscheinen nicht bemerkt, doch es würde nicht mehr lange dauern, falls ich nicht unsagbares Glück hatte. Und eine Glückssträhne hatte ich zuletzt ja wahrlich nicht gehabt, ganz zu schweigen von unsagbarem Glück.
Arlene stand einfach da, die Autoschlüssel in der Hand. Es war ganz leicht, in ihren Gedanken herumzuwühlen und die schreckliche Geschichte zu lesen, die sich dort verbarg.
»Was tust du denn, willst du etwa wegfahren, Arlene?« Ich bemühte mich, leise zu sprechen. »Du solltest doch im Wohnwagen sitzen und auf mich warten.«
Sie verstand alles, und sie schloss die Augen. Schuldig, schuldig, schuldig. Arlene hatte versucht, sich in eine innere Welt zurückzuziehen und das Vorhaben der Männer zu leugnen, damit sie es nicht an sich heranlassen musste. Doch das hatte nicht funktioniert - und trotzdem hatte sie heute diesen Verrat an mir begangen. Arlene war völlig bloßgestellt.
»Du steckst zu tief drin«, sagte ich mit einer völlig sachlichen Stimme, die mir selbst ganz fremd war. »Das wird keiner verstehen oder verzeihen.« Arlenes Augen weiteten sich vor Schreck, weil sie wusste, dass meine Worte nur allzu wahr waren.
Doch ich bekam noch einen eigenen Schreck. Denn auf einmal wusste ich mit absoluter Sicherheit, dass weder Arlene noch diese beiden Männer Crystal getötet hatten. Sie waren Trittbrettfahrer, die Crystals Kreuzigung nachahmen wollten, weil sie es für eine großartige Idee hielten, für eine markante Meinungsäußerung zur Großen Offenbarung der Wergeschöpfe. Sie wussten, dass ich keine Gestaltwandlerin war, hatten mich aber trotzdem als Opferlamm ausgewählt, gerade weil ich nur Sympathisantin der Gestaltwandler war und mich deshalb nicht so vehement wehren könnte wie ein zweigestaltiges Geschöpf. Dazu war ich ihrer Meinung nach einfach nicht stark genug. Unfassbar, oder?
»Du bist wirklich armselig«, sagte ich zu Arlene. Ich konnte anscheinend gar nicht mehr aufhören, auch wenn meine Stimme völlig sachlich blieb. »Du hast dir in deinem ganzen Leben noch kein einziges Mal die Wahrheit eingestanden, stimmt's? Du siehst dich immer noch als hübsches, junges Ding von fünfundzwanzig und glaubst, eines Tages kommt ein Mann vorbei und sieht genau das in dir. Jemand, der für dich sorgt, so dass du nicht mehr arbeiten musst, und der deine Kinder auf eine Privatschule schickt, wo sie nur noch mit ihresgleichen umgehen müssen. Das wird nie geschehen, Arlene. Denn das hier ist dein Leben.« Und mit einer ausholenden Armbewegung wies ich auf den Wohnwagen inmitten des ungepflegten Gartens und auf den alten Pick-up. Es war das Gemeinste, was ich je gesagt hatte, doch jedes Wort davon entsprach der
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