Vampirmelodie
empfindlich. Und zögernd sagte ich: »Ich habe mich nur irgendwie gewundert, warum du nicht zu der Anhörung vor Gericht gekommen bist.«
»Glaubst du, ich will dich in Handschellen sehen, all deiner Würde beraubt?«
»Ich finde, meine Würde habe ich immer, Sam, Handschellen oder nicht.« Ein, zwei Sekunden lang starrten wir einander finster an. Dann fügte ich hinzu: »Aber es war ziemlich demütigend.« Und zu meiner eigenen Verlegenheit füllten sich meine Augen mit Tränen.
Er streckte die Arme aus, und ich umarmte ihn, obwohl ich sein Unbehagen spüren konnte. Der Eid, den er geschworen hatte, war auch gegen Körperkontakt gerichtet, schloss ich. Als die Umarmung natürlicherweise endete, hielt er mich irgendwie auf Abstand. Ich ließ es geschehen. Er schien zu wissen, dass ich ihm noch mehr Fragen stellen wollte. Doch ich überlegte es mir noch mal.
Stattdessen lud ich ihn für den nächsten Abend wieder zum Essen zu mir nach Hause ein. Ich hatte einen Blick auf den Arbeitsplan geworfen und gesehen, dass Kennedy hinterm Tresen stehen würde. Er nahm die Einladung an, wirkte aber misstrauisch, so als ob er mich eines geheimen Motivs verdächtigen würde. Keineswegs! Ich dachtenur, je öfter ich mit ihm zusammen war, desto mehr Gelegenheiten hätte ich, herauszufinden, was los war.
Ich hatte befürchtet, dass die Leute zurückweichen würden vor mir, weil ich des Mordes an Arlene angeklagt war. Doch während ich an meinen Tischen bediente, erfuhr ich die schockierende Wahrheit: Arlenes Tod war den Leuten ziemlich egal. Der Prozess gegen sie hatte ihren guten Ruf zerstört. Es war nicht so, dass die Leute mich so sehr mochten; sie fanden vielmehr, dass eine Mutter ihre Freundin nicht in den Tod locken und sich dann fassen lassen sollte, weil sie damit ihre Kinder im Stich ließ. Ich erfuhr, dass ich trotz der Tatsache, dass ich mit Vampiren zusammen gewesen war, in vielerlei Hinsicht einen guten Ruf genoss. Ich galt als zuverlässig, fröhlich und hart arbeitend, und das zählte eine ganze Menge bei den Leuten von Bon Temps. An allen Feiertagen sowie am Todestag meiner Familienangehörigen brachte ich Blumen an deren Gräber. Und außerdem war über den allgemeinen Klatsch durchgesickert, dass ich mich um den kleinen Sohn meiner Cousine Hadley kümmerte, und es herrschte die weitverbreitete freundliche Hoffnung, dass ich Hadleys Witwer, Remy Savoy, heiraten würde, denn das würde die Dinge doch sehr schön ordnen.
Was sicher großartig wäre … wenn Remy und ich denn Interesse aneinander gehabt hätten. Bis vor Kurzem hatte ich Eric gehabt, und soweit ich wusste, war Remy noch mit der sehr hübschen Erin zusammen. Ich versuchte, mir einen Kuss mit Remy vorzustellen, verspürte dabei aber einfach nicht die geringste Lust dazu.
All diese Gedanken beschäftigten mich innerlich ebenso, wie ich äußerlich beschäftigt war, bis es an der Zeit war, nach Hause zu gehen. Sam winkte lächelnd, als ich meine Schürze abnahm und meine Tische an India abgab.
Überhaupt keiner war da, als ich die Hintertür meines Hauses aufschloss. Das war merkwürdig, da es am Morgen noch so ein Bienenstock gewesen war. Einer spontanen Eingebung folgend, ging ich in mein Schlafzimmer und setzte mich auf die Bettkante gleich neben meinem Nachttisch. Dank meines Putzwahns während meiner drei freien Tage lagen in der obersten Schublade ordentlich nebeneinander all die Dinge, die ich mitten in der Nacht plötzlich brauchen könnte: eine Taschenlampe, Papiertaschentücher, ein Lippenpflegestift, Aspirin, drei Kondome, die aus meiner Zeit mit Quinn übrig geblieben waren, eine Liste Notrufnummern, ein Aufladegerät fürs Handy, eine alte Blechdose (voll Reißzwecken, Nadeln, Knöpfen und Büroklammern), ein paar Stifte, ein Notizblock … die übliche Ansammlung praktischer Dinge eben.
Doch in der nächsten Schublade lagen Erinnerungsstücke. Die Kugel, die ich Eric in Dallas aus dem Körper gesaugt hatte. Ein Stein, von dem Eric im Wohnzimmer eines der Mietshäuser von Sam in der Stadt am Kopf getroffen wurde. Verschiedene Schlüsselbunde zu Erics Haus, Jasons Haus, Taras Haus, alle ordentlich beschriftet. Eine in Plastik eingeschweißte Kopie der Todesanzeige meiner Gran und der meiner Eltern, und ein eingeschweißter Zeitungsartikel, der in dem Jahr erschienen war, als die »Lady Falcons« in der Softball-Kreisliga gewonnen hatten, mit ein paar netten Zeilen über meine Leistung. Ein antikes Medaillon, in das meine Gran je eine
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