Vampirzorn
vielmehr mit der Beharrlichkeit derer, die ihn darin heimsuchten) war er auf einmal wieder bei klarem Verstand. Oder vielmehr die Leere, die ihn erfüllt hatte und die er sich wohl auch selbst zuzuschreiben hatte, war von ihm gewichen, und er hatte nicht vor, sie ein weiteres Mal von sich Besitz ergreifen zu lassen. Denn wenn ein Vakuum bereits der Natur ein Gräuel ist, um wie viel mehr dann den Toten, wenn sich anstelle dieser Leere einst der Necroscope befunden hatte.
Er war also wieder bei Verstand und vermochte klar zu denken, und seine innere Uhr sagte ihm, dass bald der Morgen anbrechen musste. Obwohl er von dem Moment an, in dem er die Augen aufschlug, begann sich steif zu fühlen, war ihm klar, dass dies bloß Einbildung war, die natürliche Folge der Tatsache, dass sie ihn an den Stuhl gefesselt hatten. Denn sein Schlaf war tief und (paradoxerweise) erholsam gewesen; selbst jetzt noch vernahm er eine allmählich verhallende innere Stimme, die ihm sagte: Du wirst tief und fest schlafen, Harry, und wenn du aufwachst, wirst du dich ausgeruht und erholt fühlen ... du wirst dich ausgeruht und erholt fühlen ... ausgeruht und erholt.
Da waren noch andere Stimmen gewesen. Jetzt waren sie zwar weg, aber er erinnerte sich an die Botschaften, die sie ihm hinterlassen hatten. Oder waren diese Botschaften lediglich Ideen, Gedanken, die ihn vor seinem Nervenzusammenbruch beschäftigt hatten? Was auch immer, sie waren da, tauchten gemeinsam mit Harry aus seinem tiefen, erholsamen Schlaf auf.
Der Gedanke zum Beispiel, dass eines seiner grundlegenden Probleme noch aus seiner Zeit beim E-Dezernat stammte. Das war nicht neu, Nostradamus’ Quatrains hatten ihn darauf gebracht. Doch was steckte sonst noch an nicht Entschlüsseltem in diesen Vierzeilern? Wie es aussah, wartete Arbeit auf ihn.
Dann war da noch der Gedanke – oder vielmehr die Tatsache, dass es noch gar keinen eindeutigen Beweis dafür gab, dass Bonnie Jean ihm das Leben vermasselt hatte. Jedenfalls keinen hundertprozentigen. Hatte das E-Dezernat seine Finger mit im Spiel gehabt, stand es allenfalls fifty-fifty.
Und dann wiederum die Vorstellung, dass B. J. sich in Gefahr befand. Ihre Feinde streiften draußen umher, wahrscheinlich auf der Suche nach ihr, jetzt, in diesem Augenblick, während Harry hier drinnen schmorte! Und falls sie ihn wirklich liebte – und mit einem Mal war er sich sicher, dass es sich, ganz gleich wer oder was sie auch immer sein mochte, tatsächlich so verhielt –, dann waren ihre Gegner auch die seinen. Zugleich war ihm klar, dass es sich um gefährliche Gegner handelte, nicht bloß um jemanden, der ihn piesacken wollte, so wie hier.
Willis! Der Morgen! Frühstück!
Auf gar keinen Fall! Auf keinen verdammten Fall!
Harry warf den Kopf hin und her und blickte sich verzweifelt in seiner Zelle um. Dann öffnete er seinen Geist für die Toten. Es war ein Hilferuf, ein regelrechtes SOS.
Harry! , sagte R. L. Stevenson Jamieson, und es klang, als habe er es verdammt eilig. Hörst du mich, Necroscope? Dieser Kerl ist jetzt gerade auf dem Weg zu dir, und er ist nicht unbedingt dein Freund!
»Wie lange habe ich noch, R. L.?« Vergeblich zerrte Harry an den Lederriemen, mit denen seine Hände an die Armlehne des Stuhles gefesselt waren. Er zappelte mit den Beinen und versuchte, um sich zu treten, vermochte aber keinerlei Druck auszuüben, denn seine Füße reichten nicht bis zum Boden.
Wie lang? Ich rechne nicht in Zeit, bloß in Entfernungen, Harry! Alles, was ich weiß, ist, dass der Kerl immer näher kommt, und er freut sich darauf. Ich sehe deine Flamme in der Dunkelheit leuchten, und dieser Kerl will sie auf Teufel komm raus ausblasen! – Na ja, er wird es wenigstens ein bisschen versuchen. Er hat bestimmt nichts Gutes mit dir im Sinn, so viel steht fest.
Harry hörte auf, an den Riemen um seine Handgelenke zu zerren, und warf sich stattdessen gegen den breiten Gurt, der quer über seine Brust verlief. Dieser gab etwas nach, doch außer seinen Lungen verfügte Harry über nichts, was er als Hebel benutzen konnte. Es war sinnlos. Selbst wenn es ihm gelingen sollte, sich von dem Stuhl loszumachen, steckte er immer noch in der Zwangsjacke.
Keuchend sandte er einen Gedanken aus: »Ist sonst irgendjemand da draußen? Gibt es an diesem Ort eine ... Leichenhalle?« Es gab keine. Aber selbst wenn es eine gegeben hätte, dämmerte Harry allmählich, dass es wohl doch keine allzu gute Idee wäre, einen Wahnsinnigen von den Toten
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