Variante Krieg oder Der Untergang des DDR - Planeten (German Edition)
Büsche.
Schweißgebadet trotz frischer 6°C taumelte Wilfried der Baracke entgegen, nicht vor Schwäche, sondern vor Streß.
Im Waschraum drängte man sich um die wenigen rostbraunen Rundbecken, in denen der Schmodder vom Vorgänger nicht sehr auffiel. Aus den Plastikwasserhähnen, die merkwürdigerweise immer nur in Gemeinschaftswaschräumen zu finden waren und bei denen man stets befürchten mußte, daß man die Flügel abbrach, kam natürlich nur eiskaltes Wasser. Kaum war er mit Waschen und Rasieren fertig, seinen Philips - Rasierapparat mit Rotorblättern, denn Schwingköpfe von Bebo - Sher vertrug er nicht, notdürftig mit beiden Händen bedeckend, damit es nicht hieß, daß seine Rasur der Klassenfeind durchführte, so ertönte erneut der Befehl zum Antreten vor der Baracke.
Im Gleichschritt ging es zum Frühstück, welches aus harten Konsum - Brötchen bestand, die angeblich die Straßenbahn zum Entgleisen brachten, wenn man sie auf die Schienen legte, und Tee, der schmeckte, als habe man zu dessen Gewinnung am Bahndamm mit der Sichel das Unkraut gemäht.
„Der Hunger treibt´s rein und der Ekel würgt´s runter!“ hörte er am Nachbartisch sagen.
„Dazu der Hängolin -Tee.“
„Was soll ´n das sein?“ fragte jemand.
Wilfried spitzte die Ohren.
„Damit kannste nich´ mehr bumsen.“
„Dann mußte dich ähmd bumse´ lasse´!“ war von schräg herüber zu hören.
Gassenjargon war Wilfried bis dahin nicht sehr geläufig. „Bumsen“ hatte er zwar schon gehört, doch wie ein Mann sich „bumsen lassen“ sollte, entzog sich seiner Vorstellung.
Für einen Augenblick stieg Panik in Wilfried hoch, doch dann beschloß er, zwecks geistiger Hygiene den Gerüchten keine weitere Beachtung zu schenken.
Angeblich hätten Zusätze von Natron im Tee diese Wirkung, so erfuhr er später. Obwohl seine Kenntnisse auf dem Gebiet der Medizin nicht groß waren, wußte er doch, daß Natron oder Soda in so vielen Lebensmitteln enthalten war, daß man dieser Substanz schwerlich sexualdämpfende Wirkungen zuschreiben konnte. Möglicherweise war sogar gewollt, mittels dieses Gerüchtes besagte Wirkungen zu erzielen, da die Sexualfunktionen zum großen Teil vom Kopf her ausgehen.
War der Mathematiklehrer Peter Münzthal mit zwei roten Streifen auf den Schulterklappen der Uniform der Zugführer ihres dritten Zuges der dritten Hundertschaft, so trug Musiklehrer Scherer drei Steifen und war der Kommandeur der Hundertschaft. In Wilfrieds Vorstellung hätten solche Funktionen am ehesten die Sportlehrer innehaben müssen, die ja schon im Unterricht Kommandos gaben, kurzum, deren Gehabe dem militärischen am nächsten kam.
Schülern klassische Musik nahezubringen und zugleich eine höhere militärische Funktion auszuüben, erschien Wilfried hingegen unvereinbar.
Dennoch stand Musiklehrer Scherer nun vor ihnen beim Morgenappell der Hundertschaft.
„Kamerad Scherer, dritte Hundertschaft zum Morgenappell angetreten!“ fiepte die Stimme eines der Gruppenführer und Stubenältesten, die Hand am Käppi.
„Freundschaft, Kameraden!“ antwortete Scherer, dabei zackig die Hand zum Gruß an sein Käppi führend.
„Freeuundschaft!“ erklang es reichlich genervt.
Scherers Züge wurden zornig. Stumm und in gespannter Haltung stolzierte er vor der Hundertschaft auf und ab. Schier unerträglich wurde die Spannung vor dem gefürchteten Donnerwetter.
„Rührt euch!“ befahl er schließlich nach einer gefühlten Ewigkeit.
Statt eines Wutausbruches folgte nun eine kalte Drohansprache die weitaus unangenehmer war, als ein kurzes Donnerwetter, nach dem alle Wut verraucht wäre, denn ihre Wirkung war von weit längerer Dauer:
„Herrschaften, wir sind hier nicht im Sanatorium. Keine Disziplin, und euer Abitur ist gelaufen. Und vorher“ - er machte eine Kunstpause - „dort ist die Sturmbahn!“
Mit einer kurzen Kopfbewegung wies er nach links.
„Nach dem Abendessen habe ich viel Zeit für unser gemeinsames Konditionstraining! Woll´n doch mal sehen, wer länger durchhält, ihr oder mein Daumen! Noch mal Meldung!“
„Kam´r´d Sch´rrr dr´ Hundertsch´ft z´m M´rg´napp´ll ang´tr´tn!“
Die Stimme des Gruppenführers überschlug sich jetzt, hastig die überflüssigen Laute verschluckend.
„Freundschaft, Kameraden!“ erklang es nun noch eine Spur zackiger.
„Freundschaft!“ erscholl gefügig das befohlene Wort. Wilfried und die anderen hatten aufgegeben.
„Kamerad Münzthal wird nun den Tagesablauf
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