Variante Krieg oder Der Untergang des DDR - Planeten (German Edition)
Rotten begradigen!“
Mehr als drei Mann nebeneinander konnten auf dem Schotterweg nicht marschieren.
Wilfried lief als Mittelmann. Schon im Kindergarten hatte er diese Position bei Ausflügen gehaßt-man mußte die Nebenmänner rechts und links anfassen und hatte im Gegensatz zu den Kindern auf Außenposition nicht einmal eine Hand frei. Nun behinderten die Nebenmänner den freien Blick in die Landschaft, in die er sich wenigstens frei hineinträumen gewollt hätte.
„Stellvertretender Rottenführer Niebold, ausrichten!“ brüllte es auf einmal zwei Reihen hinter Wilfried.
„Zu Befehl, Rottenführer Vierer!“
„Natürlich, Vierer,“ dachte Wilfried. Vor dem mußte man sich in Acht nehmen.
Ein halbes Jahr zuvor hatte er sich auf einer Schulversammlung öffentlich dafür entschuldigen müssen, auf dem Dachboden der Schule sich mit einem Mitschüler ein Feuergefecht mit Luftgewehren geliefert zu haben. Der Schießstand war daraufhin geschlossen worden, was Wilfried mit Erleichterung aufgenommen hatte, waren ihm doch obligatorische Schießübungen dort oben erspart geblieben.
„Im GST - Lager wird eine tierische Hektik gemacht!“ hatte Vierer auf dem Schulhof trompetet, so daß es auch wirklich jeder hören mußte.
„GST - Lager ist der größte Scheiß!“ hatte ihm jemand aus seiner Klasse etwas leiser geantwortet.
„Wir machen nichts, aber wir tun so, als ob wir was machen,“ war die dritte Aussage zum GST - Lager gewesen, die Wilfried in der Schule zuvor hören konnte.
Man hatte jedoch stets Angst, sich selbst zu äußern. Jede dieser Aussagen konnte als Provokation dienen, Zustimmung führte zur Denunziation durch den Stasi-Spitzel.
Ein Jahr zuvor, 1979, war das Gesetz gegen politische Witze in Kraft getreten.
Wilfrieds Vater hatte sich das Gesetzblatt schicken lassen - allein das war schon verdächtig, aber Wilfrieds Vater, der bereits die dritte Diktatur erlebte, wußte anscheinend genau, wie weit er gehen konnte.
Mit zwei Jahren Gefängnis konnte das Verbreiten herabwürdigender Witze über Ewald Hocker und seine SED - Oberen bestraft werden. Wilfried war entsetzt und empört gewesen, daß man sogar das befreiende Lachen verbot, noch viel mehr aber darüber, daß man in seiner damaligen Schulklasse achselzuckend zur Kenntnis genommen hatte, nun dürfe man eben keine politischen Witze mehr erzählen.
Rottenführer - war das nicht ein Begriff der Nationalsozialisten? Gehörte dieses Wort nicht zur Lingua tertii imperii, zur Sprache des Dritten Reiches?
Niemand wies Vierer zurecht. Was hatte das zu bedeuten?
„Dritter Zug halt!“
Münzthal nahm die Meldung des Gruppenführers entgegen. „Gruppenführer“ - auch ein Begriff der Nationalsozialisten, der aber eine solch hohe Position bezeichnete, daß man ihn nun getrost weiterverwenden konnte für eine subalterne Dienststellung.
„,Beobachten´ heißt das Ausbildungsthema,“ hub Münzthal an.
„Um beobachten zu können, müssen Sie sich tarnen, gleichzeitig aber einen Punkt wählen, an dem Sie gut beobachten können. Die Tarnung und Deckung sind sehr wichtig. Es nützt nichts, wenn Sie viel beobachtet haben, ihre Beobachtungen aber nicht mehr weitergeben können.
Bei der Abwägung zwischen Beobachten und Tarnen hat das Beobachten aber Vorrang.“
Da war es ja, das bedenkenlose Einsetzen von Menschenmaterial zwecks Erzielung unbedeutender taktischer Vorteile. Oft genug hatten sowjetische Kriegsfilme dieses Vorgehen heroisiert.
„Sie machen Meldung, was, wann und wo Sie beobachtet haben, und was Sie weiterhin tun werden. Zum Beispiel die Straße dort vorn:“
Münzthal wies auf die nahe Landstraße.
„Ich befinde mich am Kilometer 2 der Landstraße 112 und habe seit 10.30 Uhr 5 LKW und 8 Pkw Richtung Goldisthal beobachtet. Ich beobachte weiter.“
Die Szene bekam etwas vom Räuber - und - Gendarm-Spiel.
„Zur exakten Beobachtung gehört das Entfernungsschätzen.“
Münzthal erläuterte umständlich die jedem Bergtouristen bekannten Tatsachen, daß bei klarem Wetter die Gipfel viel näher scheinen, als sie tatsächlich sind, wie die Himmelsrichtung mit Hilfe der Uhr bestimmt werden kann und gab einige weitere Tips.
„Zur Benotung der Gruppen angetreten!“ kommandierte er dann und gab jeder Gruppe eine Schätzaufgabe; auf den Schätzwert mußte man sich kollektiv einigen.
Münzthal zögerte den Abmarsch hinaus.
„Lauft nun den Berg runter bis zum Ende der Straße, wie ´ne Hammelherde!“
Endlich konnte man
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