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Variationen zu Emily

Variationen zu Emily

Titel: Variationen zu Emily Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Saarmann
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jubelte es in ihm, „hier ist der Schlüssel zu allem!“ Die letzten Meter vor der Lichtung brach er durch das Dorngerank wie ein erzürnter Elefantenbulle – und stürzte mit einem Schrei in die Tiefe.
    Der Sonne ist es gleichgültig, was auf der Erde geschieht. Sie ist so beschäftigt mit ihrer Bahn und so beunruhigt von den gewaltige n Infarkten in ihrem Herzen, dass sie nicht darauf achtet, welche Katastrophen auf einem Gestirn so niedriger Ordnung vorfallen. Sie erscheint den Menschen häufig wie eine frohgemute Lebensspenderin. In Wahrheit ist das gar nicht ihre Absicht. Sie ist eine außerordentlich verdrießliche alte Dame, die vor Bauchgrimmen und Hautausschlägen ihre unaufhörliche Fron höchst widerwillig leistet. Sie würde in den Ruhestand treten, wenn denn höhere Mächte es nur zuließen. Und sie würde beifällig nicken und mit dieser kleinen Bewegung die ganze ausgeklügelte Ordnung durcheinanderbringen, wenn sie sehen könnte, dass auch andere Teilchen in diesem komplexen System zu leiden haben.
    Die Lichtung erwies sich als steil abfallender Kessel, den ein nicht mehr existierender eiszeitlicher Strom in Jahrtausenden mühsam gegraben hatte. Direkt am Waldrand fiel das Gelände in mehreren meterhohen Stufen ab, bis es in einer lichtdurchfluteten Senke zum Stehen kam. Dort unten rieselte eine Quelle klar durch einen schmalen Spalt im Felsrand, und eine üppige Vegetation bediente sich ausgiebig der unaufhörlich gebotenen Feuchtigkeit, die noch niemand abgeleitet hatte, um Badewannen zu füllen, Autos zu waschen und Kraftwerke zu kühlen. Hier herunter kamen nur sehr behende Wildtiere, um zu trinken. Es war still in diesem Tal bis auf das Rascheln der Bäume, das Summen von Insekten, das Kichern, Pfeifen und Flöten von Vögeln. Die Menschen waren zwar nur wenige Kilometer weit entfernt, aber sie scheuten die Anstrengung des Auf- und Abstiegs, da der Kessel nicht wirtschaftlich nutzbar erschien.
    Zarte Fingerchen kitzelten Franks Stirn. Als er die Augen öffnete, nickten ihm Pflanzen zu. Direkt neben seinem Kopf wischelten die Blätter eines Farns, und einer der Fächer berührte in der leichten Brise seine Stirn. Ihm war übel, und sein Kopf dröhnte. Er war gestürzt, daran erinnerte er sich. Der Boden unter seinen Füßen war plötzlich verschwunden, und es gab erst ein Gefühl der Leere und dann einen heftigen Aufprall. Er hörte noch seinen Schrei, der von den Wänden um ihn herum zurückgeworfen wurde. Aber offensichtlich lebte er. Die Geräusche des Waldes, die Vögel und das Summen konnte er sich nicht einbilden. Dazu war die Kulisse zu vielfältig, zu einfallsreich.
    Mit einem Stöhnen richtete er sich auf und betrachtete mit wachsender Angst den großen Blutfleck, der das Gras verklebte. Auf dem harten, kalten Grün wirkte das schwärzlich gerinnende Rot wie eine von Hieronymus Boschs Lieblingsfarben. Er strich sich vorsichtig mit den zerkratzten Händen über den Körper, erprobte jeden Muskel und hielt dann inne. Nichts gebrochen, nur mehrere Blutergüsse und Prellungen, soweit er seinen Empfindun gen trauen konnte. Die Wunde musste sich am Hinterkopf befinden. Daher wohl auch die Übelkeit: eine leichte Gehirnerschütterung, sonst nichts. Und eine Platzwunde, die bald vernarben würde. Trotz seines rebellischen Magens, der auf eine Gelegenheit wartete, seinen Inhalt – ein Glas Milch, viel mehr konnte es nicht sein – vor ihm auszugießen, musste er lächeln.
    Was für ein Abenteuer! Sechs Stunden von der Zivilisation entfernt, und er stürzte in einen Abgrund und erwachte nahezu unverletzt in einem neuen Leben. Er erhob sich wankend und schaute sich um. Zwei der an dieser Stelle vier Stufen hatte er im freien Fall überwunden. Als er in das Tal hinabschaute, wusste er, dass er die beiden anderen auf jedem halbwegs gangbaren Weg auch noch zurücklegen musste. „Shangri-La“, sagte er leise. Es musste kein Berg sein, auf den er sich zurückzog. Ein Tal eignete sich genauso gut.
    Die Sonne schien mit all ihrer vom So mmer ausgeliehenen Kraft. Es musste früh am Nachmittag sein. Die herabströmende Wärme war wie ein lautloses Dröhnen, das sich im Tal ausbreitete und in seinen Ohren klang. Aber ein sanfter Windstrom zwängte sich durch irgendeine Lücke im Gestein und kühlte seine Stirn. Er hatte Durst, und er wollte seine Wunden und Kratzer waschen. Und er wollte neben der Quelle im grünen Gras ruhen.
    Er ging umher und suchte eine Möglichkeit zum Abstieg. Es gab einige

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