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Variationen zu Emily

Variationen zu Emily

Titel: Variationen zu Emily Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Saarmann
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Möglichkeit gegeben: Schluss und ein Neubeginn – ohne ihn. Wie allerdings dieses neue Leben im Detail aussehen sollte, wusste sie nicht.
    In dieser Phase des Innehaltens und Umsichschauens erwähnte Sabrina ganz gegen ihre Gewohnheit währ end einer der kurzen Pausen, dass sie am folgenden Wochenende ihre Schwester in den Vogesen besuchen würde. Auf Marthas zögernde Nachfrage erzählte sie, dass deren Mann dort in einer Schule unterrichtete und dass das Paar sehr idyllisch mit seinen fünf Kindern in einem kleinen Holzhäuschen wohnte. Plötzlich sah sie ein anheimelndes Bild und den ersten Schritt auf einem Weg vor sich, der von Tom und dem alten Leben hinwegführte: Zurückgezogenheit, Holzhäuschen, flackerndes Feuer im Kamin, Duft nach Plätzchen, süße, rotwangige Kinder, gemeinsames Basteln am großen Holztisch in der Wohnküche.
    Sie erblickte ein kleines Dorf im Schnee. Kinder rodelten in der frühen Dämmerung jauchzend weiße Hänge hinab, und aus den Fenstern der Häuser fiel das flackernde, warme Licht von Kerzen. Es war wie ein sentimentales Märchen aus der Kindheit. Und passend dazu hatte sie das merkwürdige Gefühl, dass sich wie bei Alice im Wunderland im Stumpf eines abgestorbenen Baums eine geheime Tür öffnete, die sie einließ in die Welt ihrer Sehnsüchte. Dass Sabrina ausnahmsweise von einer privaten Angelegenheit sprach, nahm sie als Zeichen.
    „Sag mal, Sabrina“, fragte sie scheu, „was ist das für eine Schule, an der dein Schwager unterrichtet?“ Sabrina sah sie an. War da ein Lauern im Blick? „Ach, es ist einfach herrlich, wie sie dort den kleinen Küken alles für das Leben Notwendige beibringen. Sie nennen es Müllerismus – du weißt schon, nach diesem klugen Erzieher, Marhabat Müller. Die Kinder spielen und lernen dabei. Sie leben ein wenig wie in den alten Zeiten, weißt du. Entspannt, ganz auf das Wichtige konzentriert. Technik ist verpönt. Also Fernseher, Radio und Handy darfst du da nicht erwarten. Aber diese Tiefe! Alles Philosophen, wenn du mich fragst. Menschen, die nach dem richtigen Leben streben und die Hektik hier bei uns, die ständige Reizüberflutung und den Konsumzwang ablehnen.“ Sie verzog kurz das Gesicht, als hätte sie eine Kakerlake in ihrer Hose verschwinden sehen.
    Dann fuhr sie gelassen fort: „Wenn ich dort ein paar Tage ausgeruht habe, komme ich als ein anderer Mensch zurück. Sehr entspannt und irgendwie gereift, verstehst du. Man kann dort so viel lernen.“ Keine Hektik, kein Fernsehen, kein Radio. Und Menschen, die nach dem richtigen Leben strebten. Wie schön, dass es so etwas noch gab. Sie hatte einmal von den Hutterern gelesen und gedacht: Die machen es richtig! So eine verschworene Gemeinde schien es also auch in Europa zu geben. „Und was tun sie sonst – ich meine, wenn sie nicht unterrichten? Was machen die Frauen?“
    „Oh, die Lehrer meditieren viel, haben Sitzungen und bilden sich weiter. Die Familien spielen Gesellschaftsspiele, singen, beten, plaudern oder unterrichten einander. Es ist einfach herrlich, abends mit der ganzen Familie am Kachelofen zu sitzen. Meine Schwester strickt, stickt oder häkelt meistens, die Kinder spielen am großen Esstisch, mein Schwager kommt manchmal aus seinem Arbeitszimmer und tätschelt ihnen den Kopf.“ Sie schien kurz nachzudenken. Dann sagte sie langsam: „Komm doch einfach mit und sieh es dir an. Die freuen sich sicher, wenn ich mal eine Kollegin mitbringe.“
    Martha dachte gar nicht erst nach. So eine Chance bot sich nur einmal. Sie würde vielleicht von den klugen Menschen dort lernen können, w ie man es anstellen musste, dass einem die Welt nicht so leer und traurig vorkam.
    Sie fuhren am Freitag mittag direkt nach der Arbeit los. Mit etwa fünfhundert Kilometern war es keine weite Strecke, aber für den klapprigen Kleinwagen von Sabrina bedeutete es einen Kampf auf Leben und Tod. Die Tachonadel pendelte meistens zwischen neunzig und einhundertzehn, und das war in diesen Zeiten eine schon fast gefährliche Geschwindigkeit. Lastkraftwagen fuhren von hinten nahe auf oder zogen hupend auf der linken Spur vorbei. Blitze schleudernde Limousinen bedrängten sie, und wenn einer der seltenen eigenen Überholvorgänge endlich abgeschlossen zu sein schien, gab in manchen Fällen der rechts Zurückgebliebene Gas und zog mühelos neben sie, eindeutige Zeichen mit Finger und Arm auf sie abfeuernd.
    „Siehst du: Männer!“, sagte Sabrina und zeigte mit dem rechten Zeigefinger auf ihre Stirn.

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