Variationen zu Emily
Begrüßung war unwiderstehlich. Die Kinder im Alter zwischen drei und fünfzehn Jahren erwiesen sich als wahre Schätze, und Wilma, die Hausfrau, wahrte bei aller Willkommensfreude und Dienstfertigkeit eine Würde, die Martha das Herz erwärmte. So konnte es also auch sein, wenn man eine angeblich minderwertige Rolle wirklich annahm. Zu Kaffee und Kuchen saßen sie nach dem sogenannten „Frischmachen“ – Martha war nun dringend an der Benutzung der Toilette interessiert gewesen – um den großen Tisch herum, plauderten und beschäftigten sich mit den lebhaften, aber friedlichen Kindern, die vor allem der fremden Dame viele Fragen stellten und sie in ihre Spiele einbeziehen wollten. Jedes von ihnen versuchte, die ihm zur Verfügung stehenden vermeintlichen Trümpfe im Spiel um den Gast einzusetzen, und sie überboten sich dabei an Einfallsreichtum.
Diese Schule scheint Kreativität und Geist wirklich zu fördern, dachte Martha und machte sich einen Knoten in ihr Gedächtnis, um bei dem Stichwort „Müller“ an diese schöne Situation zurückzudenken. Der Kaffee war stark und aromatisch und schmeckte wesentlich besser als das, was ihr unter diesem Namen bekannt war. Zu Hause war Kaffee entweder ein widerwärtiges, muffiges und trübes Getränk aus einer Thermoskanne oder eine an Blausäure erinnernde chemische Substanz, die nicht nur furchtbar nervös machte, sondern auch noch Sodbrennen hervorrief. Der Obstkuchen – „etwas ganz Einfaches aus einheimischen Früchten“, sagte Wilma – war so locker und delikat geraten, dass Martha ins Schwärmen geriet und um das Rezept bat. Die Hausfrau reagierte so prompt wie zielstrebig: „Sebastian, such bitte das Rezept aus meinem Backbuch und schreib es für Martha ab.“ Und Sebastian verschwand hinter dem gewaltigen Gebirge des zentralen Kachelofens, um fügsam den Auftrag auszuführen.
Langsam öffnete sich am anderen Ende des Zimmers eine Tür, und eine bleiche, schmale Gestalt schob sich in den Raum. Es war ein Mann Mitte dreißig, und mit seinem Erscheinen wurde es auf einmal still am Tisch. Er näherte sich mit einem seltsam knochenlosen Gang, auf seinem überzüchteten, feinen Gesicht ein leicht verrückt wirkendes Lächeln. Martha nahm die Anspannung auf den Gesichtern der Kinder wahr, und auch Sabrinas Augen wurden groß. Nur Wilma blieb gelassen. „Frank, wir haben Gäste. Sabrina hat eine Freundin mitgebracht. Martha, eine Kollegin aus der Praxis.“
Frank kam um den Tisch herum und begrüßte sie. Er sprach langsam, aber druckreif: wie ein Automat, dachte Martha, und als sie seine kalte, feuchte Hand berührte, zuckte sie kurz zurück. Aber er war sehr freundlich, umarmte seine Schwägerin mit abgewandtem Gesicht und erkundigte sich nach dem Verlauf der Fahrt. Dann breitete er unvermittelt die Arme aus, wandte das Gesicht zur Zimmerdecke und sagte in singendem Tonfall: „Herr, wir danken dir, dass du unsere lieben Gäste unversehrt in unserem kleinen Paradies hast ankommen lassen! Wir bitten für ihren Aufenthalt um deinen Segen. Amen.“ Nirgendwo ein Lächeln, nur scheue Andacht und ein wenig Ängstlichkeit in den Gesichtern der Kinder.
Martha war unsicher, wie sie sich verhalten sollte, also schaute sie ruhig auf den Boden und wartete, bis entschieden war, ob das womöglich ein längeres Gebet werden würde. Sie war seit ihrer Konfirmation nicht meh r in der Kirche gewesen, und dass man einfach so aus dem Stegreif betete, war ihr mehr als ungewohnt. Aber warum nicht? Wenn der Typ auch ein wenig eigenartig zu sein schien: dieses Schleichen, die Blässe, die feuchtkalte Hand und dieses unnatürliche, ja gequälte Lächeln! Ein Schlammwesen, fiel ihr dazu ein.
Eigenartig, wie düster die Szenerie durch sein Eintreten geworden war. Die Kinder schienen verschüchtert, selbst Sabrina hielt den Mu nd – es mochte daran liegen, dass die Sonne untergegangen war. Aber es schien eine atmosphärische Dunkelheit zu sein, durch die man seinen Nachbarn kaum mehr erkennen konnte. „Jeremiah, zünde die Lichter an“, kam prompt die feste Stimme von Wilma aus dem Dämmer. „Ich werde mich jetzt um das Abendessen kümmern. Frank, schau bitte nach den Hausaufgaben der Kinder. Unsere Gäste können sich in der Zwischenzeit schon mal mit ihrem Zimmer vertraut machen. In einer dreiviertel Stunde treffen wir uns wieder hier.“ Und während die ersten Kerzen ihr warmes Licht verbreiteten, erhob sie sich und glitt um den Kachelofen herum, auf dessen abgelegener
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