Variationen zu Emily
macht sich heute noch Gedanken über Gott, Jesus und den Heiligen Geist ... man diskutiert eher über das Leben in anderen Galaxien ... als wäre bei uns hier unten schon alles erklärt ... oder nahezu, und der Rest ist bald auch kein Problem mehr ... all die Rätsel, vor denen man noch steht ... alles Dinge, die man den Naturwissenschaften anvertraut ... den Biotechnikern, den Genentschlüsslern, den Physikern und Mathematikern ... als wären Zahlenreihen, Formeln und kryptische chemische Symbole eine Erklärung für das Leben ... als würde die Analyse der Töne, mit denen Beethoven gearbeitet hat, mir eine seiner Symphonien erklären können ... ich kenne die einzelnen Zellen ... aber warum sie nur in dieser speziellen Zusammensetzung dieses spezielle Ergebnis erzielen können, wird mir dadurch nicht klarer ... von der Wirkung auf meine Person ganz zu schweigen ... mir sagen diese ganzen wissenschaftlichen Chiffren nichts ... ich sage zwar nicht Gott, aber ich denke an etwas, das der Ursprung von allem ist ... eine Kraft, ein schaffendes Etwas, eine Art kreativer Gesetzgeber ... der all die Regeln aufgestellt hat, die wir noch immer nicht verstehen ... und wahrscheinlich nie verstehen werden ... wie sollten wir auch ... sie sind nicht an uns Menschen ausgerichtet ... sondern an einem größeren Plan ... da war dieser kleine Junge in der Nachbarschaft, ein liebes Kind ... immer so tolpatschig ... schnitt sich in den Finger, fiel über Gegenstände, verbrannte sich am Herd ... solche dummen Ereignisse ... aber gehäuft ... die Eltern warfen ihm das vor, freundlich, versteht sich ... pass doch besser auf, mein süßer Dummkopf ... aber es nutzte nichts ... überall stieß er sich ... bis eines Tages ein Arzt eine Anomalie feststellte und ihn in eine Klinik schickte ... Durchsuchen des Körpers ... nicht, um einen Schatz zu finden, sondern ein Todesurteil ... der Kleine hatte einen Blutschwamm im Kopf ... wohl sehr selten ... ein Leck, das dickflüssiges, schlieriges Blut ins Gehirn tropfen lässt ... nicht operabel ... mit fünf Jahren war die Koordination schon massiv gestört ... später traten die ersten Lähmungen auf ... entsetzlich, wie sich dieser kleine Kerl erst mit Krücken, dann mit einem Rollstuhl fortbewegte ... er hatte doch gerade erst gehen gelernt ... wir spielten mit ihm, schoben ihn umher ... er war das Kind in unseren Familienspielen ... später kam er gar nicht mehr raus ... ständig Infekte, sah schlecht ... und eines Tages hielt der Leichenwagen vor dem Haus ... eine unvorhersehbare Embolie ... wir waren alle auf der Beerdigung ... die Eltern trennten sich dann ... konnten nichts mehr miteinander anfangen ... klar, Krankheit ermüdet die Liebe ... aber niemand war schuld, niemand konnte etwas dafür ... und dennoch stelle ich mir vor, dass Mutter und Vater immer gedacht haben: Womit haben wir das verdient? ... was haben wir falsch gemacht in unserem Leben ... dass unser Sohn mit neun Jahren sterben musste ... warum lebt der uralte Mann in seiner Wohnung über dem Kaffeegeschäft noch ... egoistisch ... es sind Gesetze, die nichts mit menschlichen Maßstäben zu tun haben ... die man nur akzeptieren kann ... wir können sie weder verstehen noch ändern ... und wenn wir es könnten, würden unsere Veränderungen wahrscheinlich andere ins Unglück stürzen ... aber das würden wir in Kauf nehmen ... weil wir so noch mal für eine Weile davonkommen ... mein Vater sagt immer: kümmere dich nicht um die Probleme, die vielleicht morgen auf dich zukommen ... löse die akuten und genieße es, wenn es mal keine gibt ... häufig ist die Welt auch sehr schön ... es sind Gegensatzpaare, die einander bedingen ... ohne Schmerz und Leid gäbe es auch kein Glück ... und, meine süße Kleine, Glück gibt es doch, das musst du zugeben ... das sagte er, wenn ich mal wieder mit dicken Augen, völlig verheult, am Esszimmertisch saß ... wegen irgendeinem Jungen, einer schlechten Note ... oder weil mir der Schokoladenpudding ausgerechnet auf das Kleid gekleckert war, das ich am Abend zu einer Geburtstagsparty anziehen wollte ... mein lieber Papa ... hatte natürlich keine Chance mit seinen aufmunternden Reden ... dabei hat er so recht ... die Welt hat Platz für Trauer, aber auch für Freude ... ach, ich lege mich noch ein wenig neben Sabrina ... vielleicht ist sie einfach nicht glücklich ... ich möchte doch, dass alle sich wohlfühlen ... hm, ich könnte direkt einschlafen ... schau an, sie nimmt meine Hand
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