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Variationen zu Emily

Variationen zu Emily

Titel: Variationen zu Emily Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Saarmann
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in der Architektur seiner Zeit schon Zeichen jener unheilbaren Dekadenz sah, die zum Untergang des Abendlandes führen würde.
    Gruppen von untätigen jungen Männern, die meisten in schwarzes Leder oder jedenfalls Lederähnliches gekleidet, schützten sich vor dem unwirtlichen Herbstwetter, indem sie sich in leerstehenden oder mit Gerümpel angefüllten Garagen zusammenfanden. Sie sahen dem Taxi nach, hin und wieder glomm eine Zigarette im Dunkel der vom Betonwerk fertig gelieferten Katakomben auf. Frauen waren anscheinend keine unterwegs.
    Das Taxi hielt vor einem der Wohntürme, dessen Anstrich sich durch eine schmutzige Annäherung an die Farbe Orange auszeichnete. „Hier ist es“, sagte der Fahrer und stellte den Motor ab. „Aber lange warte ich nicht. Sie haben ja keine Ahnung. Das hier ist für Deutsche ein echt beschissenes Pflaster.“ Thomas lächelte herablassend. Der Mann schwitzte wirklich vor Angst. So ein Quatsch! Sie befanden sich schließlich nicht im Sudan oder in Somalia. „Es dauert nur ein paar Minuten“, sagte er ruhig. „Ich will jemanden abholen, dann fahren wir gleich zurück in die Stadt.“ Der Fahrer spuckte nachlässig aus dem halbgeöffneten Fenster: „Geht mich ja nichts an, Mann, was Sie hier wollen. Aber damit das klar ist: Einen dieser Messerstecher fahre ich nicht.“ Und als wollte er diese Bemerkung unterstreichen, zog er unter dem Sitz ein Pistolenhalfter hervor, lugte hinein, schnupperte kurz daran und legte es auf den freien Beifahrersitz. Dann räkelte er sich auf seinem Sitz zurecht und bellte: „Mach einfach schnell, Mann. Dann sind wir weg, bevor sie kommen.“
    Thomas stieg aus, knallte die Tür ins Schloss und ging auf das Haus zu. Himmel, in diesem Gebäude mussten ja hunderte von Menschen leben! Das Klingelbrett war wie die verrottende Operationszentrale eines Atomkraftwerks im ehemaligen Ostblock. Die feuchten und teilweise vergilbten Namenschilder in den dafür vorgesehenen Halterungen waren manuell mit kaum leserlichen Hieroglyphen beschriftet. Eine Myriade von anderen Zetteln klebte drumherum, die zusätzliche Untermieter, ein kleines Gewerbe oder einfach nur Zeiten anzeigten, in denen ein Besuch erwünscht war. Sehr viel anders hatte es in einer größeren Römersiedlung in Germanien wahrscheinlich auch nicht ausgesehen. Allerdings war diese antike Zivilisation noch nicht in den Genuss des sozialen Wohnungsbaus mit der Errungenschaft der stapelbaren Wohneinheit mit Normausstattung und Zwei-Zentimeter-Trennwänden gekommen.
    Nach langem Suchen zwischen „Döner – abends immer frisch“, „Nur von sechzehn bis zweiundzwanzig Uhr“, „Czopic – Änderungsschneiderei“ und mehr oder minder lesbaren Namen aus allen Weltgegenden fand er, was er suchte. Er drückte auf den angelaufenen Klingelknopf. Aus der Gegensprechanlage summte ihm der gerade ausgelöste elektrische Impuls entgegen. Dann erklang eine harte, schartige Stimme: „Was du wollen?“ Ein wildes Husten im Hintergrund. Tom räusperte sich: „Ich möchte Andrea abholen. Mein Name ist Thomas, Thomas Klage.“ Und er dachte: Komm doch, komm schon! Hier ist es wirklich nicht geheuer.
    Es war ein Ghetto, und trotz der unzähligen Bewohner kam es ihm wie eine Geisterstadt vor. Überall Verfall, Verwahrlosung, Lageratmosphäre. Aber der Geist, der hier hauste, war wohl eher ein unguter Geselle. Ein Grunzen antwortete, und dann kam ihre klare Stimme: „Tom, bist du es? Bleib bitte an der Tür, ich komme runter.“ Der Lautsprecher krachte, als hätte jemand mit einer Axt die Kabel durchtrennt, und blieb dann stumm. Im Treppenhaus gingen ein paar flackrige Lampen an. Dann hörte er den Fahrstuhl brummen. Der funktionierte also noch. Und dann kam sie heraus: eine wunderhübsche, zierliche kleine Frau mit rabenschwarzen, gelockten Haaren, in deren Schatten die langen Ohrgehänge blinkten, die er bei ihrer Arbeit so gerne schwingen sah. „Hi! Wo ist dein Auto?“
    Sie nahm seinen Arm. Beim Gehen erklärte er, dass er ein Taxi vorgezogen hätte, weil sie ja vielleicht ein wenig trinken würden. Und, fügte er für sich hinzu, weil sein Fahrzeug im Verhältnis zu seinem eleganten Aufzug ein wenig antiquiert, wenn nicht sogar kontraproduktiv – so sagte man jetzt, wenn man eloquent war: pro und kontra in einem Wort – gewirkte hätte. Sie erwiderte nichts, sondern steuerte zielbewusst auf das Taxi zu, das mit laufendem Motor wartete. Die Türen waren von innen verschlossen, und erst auf energisches

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