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Variationen zu Emily

Variationen zu Emily

Titel: Variationen zu Emily Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Saarmann
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schob das kleine Kästchen, auf dem in erhabenen Goldbuchstaben der Name eines bekannten Juweliers prangte, achtlos zu Sabrina herüber. „Hier, für dich. Tut mir leid. Ich wollte es eigentlich ein wenig feierlich machen, aber ich bin jetzt nicht in der Stimmung.“ Ihre Augen wurden feucht, ihre Mundwinkel bogen sich nach unten, als wollte sie gleich zu schluchzen beginnen. Dann sprang sie unvermittelt auf und ging schnell auf die Tür zu, auf der mit einfachsten graphischen Mitteln die Anatomie einer Frau dargestellt war.
     
    „Ich wohne da nicht gern, das kannst du mir glauben“, sagte Andrea. „Aber es geht nicht anders. Mein großer Bruder spielt den Gangster und ist ständig unterwegs, mein Vater ist arbeitslos und sitzt den ganzen Tag vor dem Fernseher, und meine Mutter ist schwer lungenkrank. Wer soll sich da um Mario kümmern?“ Mario war ihr kleiner Bruder, ein jetzt dreijähriger Nachkömmling, der seine Entstehung eher dem regen Konsum von Pornofilmen als der Liebe verdankte. Andrea hatte für eine Weile in einer eigenen Wohnung gelebt, war aber kurz nach der Geburt des Kindes in den elterlichen Haushalt zurückgekehrt, um für den kleinen Kerl zu sorgen. „Es ist entsetzlich dort“, und sie seufzte. „Aber einer von uns muss die Verantwortung übernehmen. Mario kann doch nichts dafür.“
    Sie hatte nach der Schule eine Ausbildung zur Bürokauffrau erfolgreich abgeschlossen, war vom Ausbildungsbetrieb übernommen worden und hatte recht gut verdient. „Was glaubst du, wie mir das fehlt: ein wenig eigenes Leben, ein wenig eigenes Geld. Ich hatte sogar einen Freund, mit dem ich zusammenziehen wollte. Der flüchtete n atürlich, als ich ihm sagte, dass ich zurückmuss. Der Scheißkerl!“ Sie sah eine Weile schweigend vor sich hin. Dann musterte sie ihn unter zusammengezogenen Brauen. Ihre Schultern sanken nach vorne wie bei einem Boxer, der die Entscheidung herbeiführen will. „Und was machen wir hier?“, fragte sie mit ein wenig schwerer Zunge. „Was willst du von mir? Heiraten wirst du mich nicht, oder?“
    Tom hatte gerade eine zweite Flasche Rotwein bestellt, weil es bislang harmonisch und fröhlich zwischen ihnen zugegangen war. Was für eine dumme Frage! Er zwang ein Lächeln auf sein Gesicht. „Nein, heiraten will ich dich nicht. Ich dachte, wir verbringen einfach einen schönen Abend miteinander. Plaudern, gut essen. So etwa.“ Der Gedanke an ihre private Misere, vielleicht in Verbindung mit dem Aperitif, dem schweren Wein und dem Grappa zwischendurch, hatte ihr plötzlich sichtlich die Laune verdorben. Sie schaute finster in die Mousse au Chocolat, die vor ihr stand, stocherte mit dem Löffel darin herum und ließ dann plötzlich von ihrer Zunge ein wenig schaumigen Speichel hineintropfen. Dann sah sie ihn wieder an. Eine ungesunde Röte verteilte sich in unregelmäßigen Flecken über Gesicht und Hals.
    „Und? Wie endet der gemütliche Abend nach deiner Vorstellung? Bei dir im Bett, oder?“ Sie lachte verächtlich. „Aber das kostet mehr als ein kleines Essen bei Kerzenschein, mein Lieber. Das kostet so viel, daß ich nicht weiß, ob du dir das leisten kannst.“ Jedes ihrer Worte war auf der Phonskala heraufgewandert. Plötzlich brüllte sie, die kleinen Fäuste geballt: „Ich bin nämlich nicht billig, auch wenn ich nur Kellnerin bin.“ Sein gezwungenes Lächeln hatte sich angesichts dieser plötzlich ausbrechenden Aggressivität Schicht um Schicht aufgelöst – wie im Herbst ein buntes Blatt sich von einem Baum löst und zunächst anmutig dem Boden zusegelt, wo es sich dann unter den Füßen eilig Vorübergehender schnell in einen schmierigen, fauligen Lumpen verwandelt.
    Er machte, sprachlos durch diesen unerwartet auftretenden Sturm, beschwichtigende Bewegungen mit den Händen, als sie nun wirklich schrie: „Du fette, alte Sau! Du glaubst, ich falle auf diesen Trick mit dem Essen rein. Mach es dir doch selbst! Mich kriegst du nicht. Ich bin nämlich zu gut für dich. Ich scheiße auf dich, du geiles Arschloch“, und sie fegte mit beiden Händen Gläser, Teller und Besteck vom Tisch. Während er noch hilflos versuchte, die herabstürzende, lärmende, splitternde Sintflut aufzuhalten, rammte sie ihm eine kleine, aber erstaunlich harte Faust ins Gesicht und rannte davon.
    Die anderen Gäste stellten sich unbeteiligt. Zwei Kellner kamen herbeigeeilt und begannen, den Schaden zu beheben, der sich überwiegend in Form von mannigfaltigen Scherben und Splittern über den

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