Varus - Historischer Roman
Händen einen kunstvoll gearbeiteten Dolch, den Varus mit verkniffener Miene anstarrte. Plötzlich sprang der Gefreite auf und humpelte näher, die Hände abwehrend erhoben;
keinen Laut gab er von sich, aber er sah aus, als hätte er ein Gespenst gesehen. Abrupt drehte Varus sich um und ließ den Sklaven mit dem Dolch stehen.
Draußen musterte der Statthalter mit verengten Augen die Wolkendecke, die weniger dicht erschien als in den vergangenen Tagen. Ein dünnes Lächeln umspielte seine Lippen, als er den Arm ausstreckte und über die Hügel deutete. Angestrengt starrte Vala in die Richtung, die Varus wohl meinte, und erkannte über dem mühsam aufgeworfenen Wall mit dem lückenhaften Zaun, dem dürftigen Schutz dieses Marschlagers, eine Lücke zwischen den grauen Wolken, ein fahles Licht, einen Hauch von Blau.
»Ein gutes Zeichen«, sagte Varus. »Ich vertraue darauf, dass Iupiter sich uns zeigen und uns zum Sieg führen wird.«
Vala wischte sich mit einem Tuch den Schweiß unter dem Stirnschutz des Helms ab, ohne den Blick von der feindlichen Palisade abzuwenden. Als die Legionen - besser gesagt, was davon noch übrig war - sich etwa fünfzig Schritt vom Fuß des Hanges entfernt nach Cohorten aufgestellt hatten, waren immer wieder Salven von Geschossen auf sie niedergegangen, die zwar wenig Schaden angerichtet, aber Unruhe verbreitet hatten. Die Bogenschützen hatten zumindest dafür sorgen können, dass sich die feindlichen Plänkler hinter die Palisade zurückgezogen hatten und dort blieben.
Vala wendete seine Rappstute, lenkte sie neben Varus’ schweren Schimmel. Die Offiziere des Stabes hatten sich vor der Kampflinie aufgereiht, einer Mauer aus Schilden und Männern, die langen Pilen aufgestellt wie die Stacheln eines Igels. Doch Vala wusste ebenso gut wie jeder andere, dass die Zahl der Pilen geschrumpft war und nur die ersten vier Reihen überhaupt noch Speere besaßen. Unbehaglich lockerte er den
straff gewickelten Schal. Ein kühler Wind kroch unter seinen Nackenschirm, trocknete das schweißfeuchte Haar, ließ die Bänder an den Standarten flattern und spielte in den Rosshaarbüscheln der Helme. Die Soldaten standen vollkommen still, kein Laut war zu hören. Der Statthalter trieb den Schimmel mit dem versilberten Stirnschutz einige Schritte auf die Männer zu, die ohne Ausnahme ihre Blicke auf ihn richteten. Ein Zischen flog über die Reihen, forderte Ruhe ein.
»Wir sind hierhergekommen, Soldaten, weil es unsere Pflicht ist, das Gesetz auch zu den Aufrührern zu bringen«, begann der Statthalter mit seiner dunklen, durchdringenden Stimme. »In diesen Gebieten, innerhalb der Grenzen römischer Herrschaft, den Frieden einzurichten und Ordnung zu schaffen, schützt die übrigen Gebiete und das Vaterland vor den Raubzügen barbarischer Horden, die Felder und Dörfer niederbrennen und Menschen erschlagen oder in die Sklaverei verschleppen. Jahrzehntelang haben tapfere Männer wie Drusus Claudius Nero, Gnaeus Domitius Ahenobarbus, Tiberius Iulius Caesar und Marcus Vinicius hier mit ihren Heeren gekämpft, um die wilden Barbaren zu unterwerfen.«
Als er innehielt, herrschte Stille, nur der Wind rauschte in den fernen Baumkronen und ließ die Wimpel einzelner Feldzeichen knattern.
»Starke Legionen haben sie begleitet«, fuhr Varus fort, »Legionen wie die euren! In unwegsamem Gelände kämpften die Heere gegen Feinde, die sie feige aus dem Hinterhalt angriffen und ebenso feige flüchteten, sobald ihre Sache schlecht stand. Doch am Ende siegten die Legionen, denn beharrlich verfolgten sie die Feinde, stellten sie und rangen sie nieder, bis sie unters Joch gehen mussten.«
Einzelne Stimmen wurden laut, Veteranen in den letzten Reihen reckten die Fäuste, manche zeigten Narben, die sie
in jenen Kämpfen davongetragen hatten. Trotzige Flüche gegen die Barbaren ertönten und Anfeuerungsrufe für die starken Männer, die in den ersten Reihen standen.
»Auch euch«, Varus’ Stimme dröhnte laut über die Soldaten hin, »griff der Feind tagelang feige aus dem Hinterhalt an und flüchtete ebenso feige, sobald er Gefahr lief, gestellt zu werden. Schlimmer noch traf uns die Erkenntnis, dass dieser Feind sich uns als Freund und Verbündeter angedient hatte. Dass ihre Anführer die Ehre römischen Bürgerrechts genossen und einem sogar der Rang eines Ritters zuerkannt worden war! Meineidiger Verrat ermöglichte die Verschwörung dieser übelsten Kerle, die euren Tod, Soldaten, fordern, um sich selbst die
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