Vater. Mörder. Kind: Roman (German Edition)
Und ich erkenne das Mädchen mit der olivgrünen Kapuzenjacke. Sie muss gestützt werden und kann sich kaum auf den Beinen halten.
»Wir brauchen keine Trage«, ruft ein Mann, vermutlich ein Lehrer, zwei Sanitätern zu.
Der Lehrer geht mit dem Mädchen und den Sanitätern die Treppe hoch, während Laura versucht, die anderen Schüler unter Kontrolle zu halten. Ich bleibe ein paar Meter weiter stehen. Auf dem Fußboden rote Pfützen. Jemand fragt, wie er die Blutflecken aus der Jeans herausbekommt, die er sich erst Samstag gekauft hat. Ein anderer nervt alle mit seiner Angst, sich irgendeine Krankheit eingefangen zu haben.
»So eine Schlampe!«, keift ein Mädchen, das an der Wand kauert. »Warum schmeißen sie die nicht endlich raus?«
Laura geht zu ihr, streichelt sie, das Mädchen beginnt zu weinen. Ein mit Eimer und Aufnehmer bewaffneter Hausmeister wirft einen Blick in den Klassenraum und wischt sich mit der Hand über die Stirn.
Auch ich trete näher. Es sieht aus, als wäre zwischen den umgestürzten Tischen und all den Rucksäcken ein Lamm abgestochen worden. Ein Mädchen, das auf den rubinroten Glasscherben ausrutscht, verflucht diese Durchgeknallte und kramt nach einem Taschentuch. Ein anderer begutachtet seinen verdreckten Organizer.
»Alle raus hier, es klingelt sowieso jeden Moment«, sagt der Hausmeister.
»Geht ein bisschen frische Luft schnappen, während hier sauber gemacht wird«, treibt Laura sie an.
In dem Moment bemerkt sie mich. Der Blutkranz auf ihrem grauen Jogginganzug ist inzwischen lila. Sie sagt etwas zu mir, das aber vom Sirenengeheul des abfahrenden Krankenwagens übertönt wird.
Zwei Mädchen haben im Streit eine Fensterscheibe kaputt geschlagen. Laura war nur die Vertretung für die Italienischlehrerin, eigentlich hatte sie gar keinen Unterricht in der IV B. Sie war kurz draußen, um einer Kollegin Unterlagen zu bringen, eine halbe Minute nur, und als sie zurückkam, war es schon passiert.
»Die beiden liegen sich schon eine ganze Weile in den Haaren. Ich habe sie schon mehrmals ermahnt. Plötzlich sagt die eine, die ich seit Beginn des Schuljahres betreue, zu der anderen: ›Ich schlitz dir die Kehle auf, du Schlampe‹, und schlägt die Fensterscheibe ein!«
Ich will wissen, ob das Mädchen sich verletzt hat.
»Sie hat sich den Arm aufgerissen, hier am Handgelenk. Verdammt, das Blut kam rausgeschossen wie aus einem Brunnen. Ich musste ihr den Arm mit meinem Haargummi abbinden.«
Ihr Blick lässt vermuten, dass ich kreideweiß bin. Es klingelt.
»Ich muss zum Rektor und dann in die Notaufnahme.«
Ich sage nichts. Wahrscheinlich müsste ich jetzt verschwinden, aber ich tu es nicht.
»Könntest du mich vielleicht hinbringen?«, fragt sie.
»Ich habe kein Auto«, stelle ich rasch klar.
»Wir können meins nehmen, aber du musst fahren. Ich fühle mich nicht gut.«
Das Auto ist eine Katastrophe, die Kupplung schleift, und ziehen will die Karre auch nicht. Und dann noch ein Kreisverkehr nach dem anderen.
Laura pellt sich aus der grauen Joggingjacke mit dem lilafarbenen Blutrand.
»Anschnallen«, sage ich.
»Und du fahr nicht so schnell. Wir haben keinen Schwerverletzten im Wagen.«
Ich schalte, sie betrachtet meine Hand auf dem Lenkrad und bemerkt den Ring.
»Hast du auch Kinder?«
Fünfzig Meter vor uns springt die Ampel auf Gelb, und ich erwäge, ob ich draufhalten soll. Jede Kleinigkeit könnte jetzt alles verderben.
»Ich?«, frage ich, als wären noch dreißig andere anwesend. »Nein.«
Ein Monster darf sich nicht ablenken lassen.
Quer vor der Krankenwagenzufahrt steht ein dunkelblauer Stadtflitzer.
»Der Wagen gehört bestimmt ihrem Onkel«, vermutet Laura und öffnet die Wagentür. »Der arbeitet hier.«
»Ich such dann mal einen Parkplatz.«
»Die Notaufnahme ist rechts den Flur runter.«
»Ich warte lieber draußen.«
»Warum?«
»Krankenhäuser mag ich nicht besonders.«
»Geht mir ebenso. Alles klar mit dir?«
»Kein Problem, ich will nur ein paar Schritte gehen und zur Ruhe kommen.«
Weder gehe ich ein paar Schritte, noch komme ich zur Ruhe.
Ich widerstehe der Versuchung, in Lauras Sachen herumzuschnüffeln, nehme nur ihre Joggingjacke und betrachte den getrockneten, lilafarbenen Fleck. Er ist groß und zerklüftet wie die Umrisse einer Felseninsel.
Mit der Jacke auf dem Schoß und dem Ellbogen im Fenster sitze ich da. Ein versiegter Tränenbrunnen, vertrocknet wie dieses Blut.
Zehn Minuten später kommt Laura zurück. Vielleicht auch eine
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