Vater Unser in der Hölle: Durch Missbrauch in einer satanistischen Sekte zerbrach Angelas Seele (German Edition)
zurückkehrte. Mit der Frau musste sie jetzt auskommen.
Sie öffnete den Kleiderschrank und fand ein Männertaschentuch. Ging ins Bad, um sich das Gesicht zu waschen. Ließ das Wasser laufen, bis es ganz kalt war. Hielt die Handgelenke darunter, bis sie fror. Beugte sich hinab und ließ den Strahl über das Gesicht laufen. Lange. Richtete sich auf und erstarrte vor dem Spiegel: Da war eine Frau im Spiegel.
Aber das war nicht sie. Das war eine erwachsene Frau. Die war alt. Viel älter als sie. Mindestens dreißig oder vierzig Jahrewar die alt. Lange Haare hatte sie und sah genauso aus wie die auf dem Bild im Flur.
Sie rannte zurück auf den Flur zum Poster. Aber das war gar kein Poster, das war auch ein Spiegel, das war dieselbe Frau wie im Bad. Langhaarig. Das war nicht sie. Sie hatte kurze Haare. Sie starrte in den Spiegel. Das Bild flackerte, einen Moment sah sie wieder sich selbst, jung, kurzhaarig. Sie griff sich in die Haare. Die Frau im Spiegel machte dasselbe. Beide hatten sie lange Haare. Die Frau im Spiegel trug dieselben zerschnittenen Jeans, sie machte genau dieselben Bewegungen, und dann öffnete sie den Mund.
»Nein«, sagte sie, »das ist nicht wahr.«
Sie wusste, dass sie manchmal für ein paar Stunden ohnmächtig wurde und dass es hinterher oft Schwierigkeiten gab, aber das waren ein paar Stunden oder ein Tag, höchstens mal drei. Oder auch vier. Fünf. Dies hier konnte nicht sein.
Sie lief durch die Wohnung und fand eine Zeitung. »Donnerstag, 9. September 1993« stand da. Auf jedem Blatt. In der Küche hing ein Kalender mit demselben Datum. Dabei war es doch 1975. Der zwölfte März 1975. Am 11. März war der Papi beerdigt worden. Gestern. Merkwürdige Leute mussten das sein, die hier wohnten. Aber darüber wollte sie nicht nachdenken. Das war unwichtig. Wichtig war: Wie kam sie aus diesem Albtraum heraus? Und aus diesem alten Körper? Wie kam sie wieder in ihre eigene Welt zurück?
Zu Hause anrufen, dachte sie plötzlich und begann, ein Telefon zu suchen. Es stand im Wohnzimmer und sah ganz anders aus als alle Telefone, die sie kannte. Dieses hatte keine Wählscheibe. Zuerst wusste sie nicht, was sie machen sollte, dann drückte sie schließlich auf die Tasten und wählte die Nummer ihrer Mutter. Eine Männerstimme meldete sich. Eine unbekannte Stimme. Sie erschrak und legte auf. Was bedeutete das? Dann fiel es ihr ein: Sie war ja in einer ganz anderen Stadt. Sie hatte die Vorwahl vergessen. Sie wählte erneut. Diesmal meldete sich eine fremde Frau. Wieder wollte sie auflegen, nahm sich dann aber zusammen, fragte: »Könnte ich bitte Frau Bahr sprechen?«
Und hörte, was sie befürchtet hatte: Keine Frau Bahr. Unbekannt. Nie gehört. Stimmt denn die Adresse? Ja, sagte die Stimme auf der anderen Seite. Außerdem wohne man hier schon seit ein paar Jahren.
Wo sind denn dann wir?, fragte sie sich. Sie, die Mutter, der Bruder? So was gibt es nicht. Das passiert im Märchen, nicht im wirklichen Leben. Bei den Heinzelmännchen. Ein Handwerker war das in Köln, der sich mit den Heinzelmännchen eingelassen hatte. Und Dornröschen. Die man gestochen hatte. Aber hier gab es keine Heinzelmännchen, mit denen sie tanzte, während die Jahre vergingen, ohne dass sie es merkte, und schon gar keinen Prinzen, der sie wach küssen könnte. Sie schlief ja noch nicht einmal. Das wäre schön gewesen, aber inzwischen hatte sie sich die Arme schon blau gekniffen und war nicht davon aufgewacht. Offenbar war sie wach. Und offenbar musste sie sich wieder einmal ganz allein zurechtfinden.
Ganz allein.
Ruhig bleiben, dachte sie in ihre Panik hinein. Denn das war das Wichtigste. Wenn sie ruhig blieb, würde alles wieder vorübergehen. So wie immer. Auch wenn etwas weh tat. Oder blutete. Denn auch das ging vorbei.
Über dem Telefon hing ein Zettel an der Wand, den sie jetzt zum ersten Mal sah: »Notfallnummer für alle, die dringend Hilfe brauchen« stand da. Konnte sie dort anrufen? Bei fremden Leuten? Lieber nicht. Oder doch? Aber wenn einer Hilfe brauchte, dann doch sie: eingeschlossen in einen fremden Körper in einer fremden Welt. Etwas ließ sie zögern, aber was hatte sie denn noch zu verlieren? Sie wählte. Eine Stimme meldete sich: »Temberg.« Eine Frauenstimme, freundlich, weich.
»Hallo«, sagte sie zaghaft zu der fremden Stimme, räusperte sich und schwieg. Was sollte sie sagen? Manchmal, das wusstesie schon, kannten Menschen sie, an die sie sich nicht erinnerte. So fragte sie: »Kennen Sie
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