Vater Unser in der Hölle: Durch Missbrauch in einer satanistischen Sekte zerbrach Angelas Seele (German Edition)
miteinander sprachen, wie ein Gemurmel, ohne dass sie den Sinn der Worte verstand.
»Oh, hallo Nina, wie nett, dass du uns anrufst«, sagte die neue Stimme.
»Nein, Sarah, ihr habt mich angerufen«, erwiderte die Telefonstimme. »Schau doch mal auf die Uhr.«
»Es ist halb sechs! Uns fehlt Zeit. Nicht schon wieder! Was war denn los?«
»Wie viel Zeit fehlt euch?«
»Gegen vier waren die Kinder noch da. Wolfgang ist früher von der Arbeit gekommen, um mit Christian zum Fußballspiel zu gehen. Kurz vorher hat Wolfgangs Mutter auch Barbara abgeholt, damit wir uns ein bisschen ausruhen können. Zwei Stunden, glaube ich, mindestens zwei Stunden fehlen.«
»Sarah, was war das Letzte, was ihr gemacht habt?«
»Nichts, wir haben nur auf der Couch gesessen. Traute hat geraucht und nachgedacht.«
»Worüber?«
»Hm. Ich glaube, wir haben an Stefanie gedacht. Wie sie uns fehlt. Ihre gute Stimmung und ihr Spaß am Leben. Wir waren so traurig, dass sie damals bei der Beerdigung gestorben ist. Achtzehn Jahre ist das jetzt her.«
»Sarah, Stefanie ist nicht tot. Sie hat mich angerufen.«
Auf beiden Seiten der Leitung war Stille. Es war so still, dass sie nicht einmal ihren Atem hörten.
»Ist das denn möglich?«, fragte Sarah.
»Es scheint so«, erwiderte Nina Temberg, etwas hilflos.
Wieder machten beide eine lange Pause. Dann fragte Sarah: »Wie geht es ihr denn?«
»Sie ist völlig verwirrt. Ich habe lange mit ihr gesprochen, um sie zu beruhigen. Sie hat noch nicht begriffen, dass achtzehnJahre vergangen sind, seit sie das letzte Mal da war. Sie denkt, die Beerdigung war gestern.«
»Ach du meine Güte.«
»Ja. Aber ich glaube nicht, dass sie irgendetwas angestellt hat. Sie war nur in der Wohnung und hat versucht sich zurechtzufinden.«
»Und nun?«
»Ich habe Stefanie versprochen, dass ich sie wieder zurückhole, wenn ihr das nächste Mal zu mir kommt«, sagte die Frau. Diese Worte konnte Stefanie wieder verstehen, und sie war erleichtert, die Bestätigung zu hören.
Wieder schwiegen die beiden. Nina Temberg holte seufzend Luft.
»Wir hatten ja keine Ahnung«, sagte Sarah. »Wir haben überhaupt nichts davon mitgekriegt. Es ist passiert, ohne dass wir irgendetwas unternehmen konnten. Meinst du, sie ist aufgetaucht, weil wir so stark an sie gedacht haben?«
»Vielleicht. Darum, Sarah, versucht bitte, jetzt nicht so intensiv an sie zu denken, denn es ist wichtig, dass sie erst mal drinnen bleibt. Wir wissen nicht, was sie draußen anstellen würde. Es besteht die Gefahr, dass Stefanie zu ihrer Mutter zurückgeht, wenn sie herausfindet, wo die jetzt lebt. Ich will ihr lieber alles in Ruhe erklären. Falls du aber mit ihr in Kontakt kommst, Sarah, wie könntest du ihr dann helfen?«
»Ich könnte ihr die Wohnung zeigen«, erwiderte Sarah, »und sie vorsichtig auf die Familie vorbereiten.«
»Das ist gut, aber sage ihr, dass es nicht ihr Mann ist, nicht ihr Kind.«
»Natürlich«, erwiderte die Sarah-Stimme, und Stefanie spürte eine Spur Ungeduld darin, als wolle sie andeuten, dass sie schon selbst auf diesen Gedanken gekommen sei.
Nicht ihr Mann?
Natürlich nicht. Stefanie hatte keinen Mann. Sie war erst dreizehn. Sie hatte nicht mal einen Freund.
Während die neue Stimme dies verwirrende Zeug mit einer gleichmäßigen Ruhe aussprach, als seien diese verrückten Geschichten vollkommen normal, bemühte sich Stefanie, die Frau zu entdecken, deren Stimme sie hörte. Doch sie konnte keinen Menschen sehen. Vielleicht lag das aber auch an dem Dunst, der über allem hing.
Allmählich konnte Stefanie dem Gespräch auch nicht mehr folgen; die Stimmen wurden zu einem Gemurmel in weiter Ferne.
Nach einer Weile wurde die Telefonstimme wieder lauter und verabschiedete sich. Stefanie empfand einen eigentümlichen Schmerz, sie nicht mehr zu hören. Wie Heimweh. Als würde sie diese Stimme schon ganz lange kennen.
Dann wurde der Hörer aufgelegt, und das Telefonat war beendet.
Angela betrachtete das Telefon, vor dem sie stand. Hatte es geklingelt? Sie wartete einen Moment. Nein, offenbar nicht, sonst würde es ja noch einmal klingeln. Weshalb stand sie dann hier? Wahrscheinlich hatte sie gerade in die Küche gehen und Abendbrot machen wollen. Und war vor dem Flurspiegel stehen geblieben, um zu überprüfen, ob er geputzt werden musste.
Sie blickte ihr Spiegelbild an, schob sich die Locken aus der Stirn, dachte, zum Friseur könnte ich auch mal wieder gehen, und sah auf ihre Armbanduhr. Es war kurz nach sechs. Wie
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