Vater Unser in der Hölle: Durch Missbrauch in einer satanistischen Sekte zerbrach Angelas Seele (German Edition)
ankommen, brennen alle Lichter.
Sie gehen hinein, Nina Temberg und Angela. Setzen sich verzagt auf die letzte Bank. Der Pastor kommt auf sie zu.
Nina stellt vor: »Dies ist Saturia. Sie musste mithelfen, ein Baby dem Satan zu opfern. Und jetzt will sie sich selber opfern.«
Der Pastor begrüßt sie. Nimmt ihre Hand. Dann geht er mit ihr zum Altar. Ein ungewöhnlicher Altar. Kein Folteropfer hängt daran, kein gekreuzigter Mensch. Der auferstandene Jesus steht vor dem Kreuz. Die Jünger sind fröhlich, voller Hoffnung.
Nun erklärt der Pastor Saturia, Jesus sei das Opfer aller Opfer. Nach Jesus müsse sich niemand mehr opfern. Man muss sich nur in die Hände von Jesus begeben.
Verrat!, schreit es innen.
Saturia und Nina knien nieder. Hinter ihnen steht der Pastor und betet zu Gott.
Laut.
»Vater«, sagt er, und das Wort löst Schauer des Entsetzens und der Wonne in Angela aus. »Vater, wir danken dir, dass du uns so unendlich lieb hast, dass du deinen eigenen Sohn geopfert hast. Wir wissen, dass wir kein neues Opfer bringen müssen, weil Jesus alle Opfer in sich vereinigt. Niemals mehr ist ein neues Opfer nötig. Wir sind deine Kinder, Vater, und wir danken dir, dass jedes Kind, das auf die Welt kommt, von dir gesegnet ist. Dein Segen ist nicht von den Menschen abhängig. Wir danken dir, Vater, dass dieses tote Kind nun bei dir ist, weil du es in deiner Güte und Gnade zu dir genommen hast.«
Er betet für Saturia und das Baby. Er bittet Gott, dass Saturia das Baby loslassen und in Gottes Hände geben kann. Dann segnet er sie und das Baby. Im Namen Gottes vergibt er ihr.
Es erreicht sie im Inneren.
Gemeinsam sprechen sie das Vaterunser.
Für die Sektenkinder ist dies das absolute Sakrileg: Überlaufen zum Christentum.
Für Saturia ist es die Erlösung.
Es gäbe Worte im Vaterunser, die würde sie nie sagen können, erzählt Traute dem Pastor, als sie die Kirche verlassen. Das seien die Worte: »… wie wir vergeben unseren Schuldigern.«
Das kann er verstehen. Er hat den Weltkrieg erlebt. Vier Jahre in Russland. Er erzählt ihr von seiner Kriegszeit. Hinterher, genauso lange wie er im Krieg war, hätte er diese Worte nicht aussprechen können.
»Aber auch das kann man mit Jesus bereden. Man muss nicht gehorsam und ergeben vor dem Altar stehen. Man kann auch seine Wut und Verzweiflung herausschreien.«
Ein neuer Gedanke.
Dann nimmt er sie in den Arm. Ein wenig. Ganz vorsichtig. Er spürt die Grenzen genau.
»Ungefähr so«, sagt Traute später, »wie es vielleicht ein richtiger, ein guter Vater getan hätte.«
Als sie die Kirche verlassen, spürt Nina Temberg in ihrer Klientin eine ganz neue Ruhe.
Aber sie bemerkt auch, dass die Sektenkinder wieder in ihr Trauma hineingerutscht sind. Für sie ist jede Kirche ein Horror. Sie haben die Worte kaum hören können. Kirche, das bedeutete für sie immer auch das Gegenteil: Ein Kreuz, ein Kelch, Kerzen, der Hall der Schritte im hohen Kirchenschiff, die sakrale Atmosphäre, damit hat auch der Kult gearbeitet. Sie rutschten wieder in die andere Welt zurück: Gleich kommt der Hohepriester, und die Folter beginnt.
»Nein«, sagt Nina Temberg, wie schon so oft. »Hier, nimm meine Hand, mach die Augen auf. Ihr seid hier. Bei mir. In Sicherheit. Niemand tut euch weh. Schaut auf den Boden. Fühlt doch mal hin. Dies ist eine Straße. Fester Boden. Wir gehen jetzt nach Hause.
Es ist vorbei.«
Endora öffnet die Augen. Sie schaut sich um. Das Licht der Straßenlaternen schmerzt. Immer war sie in der Dunkelheit. Sie holt Luft. Die Luft ist kühl, aber frisch. Zum ersten Mal spürt sie, die in der Satanssekte aufgewachsen ist, so etwas wie Hoffnung.
»Eines Tages«, sagt sie nach einer Weile, »eines Tages vielleicht, wenn wir unsere Geschichte aufgearbeitet haben, dann werden wir in die Kirche gehen können, und es wird in Ordnung sein. Einfach in Ordnung.«
»Vielleicht«, fügt sie hinzu und blickt Nina an.
DER VIERTE ZEUGE:
DAS VERSORGUNGSAMT
A m 16.1.1996 erhält Angela Lenz einen Bescheid vom Versorgungsamt. Sie ist nach dem Entschädigungsgesetz für Opfer von Gewalttaten anerkannt als schwerbeschädigt infolge extremer Gewalterfahrung in früher Kindheit.
Üblicherweise wird diese Anerkennung von einem Gerichtsverfahren abhängig gemacht: Die Täter müssen angezeigt werden. Nur wenn mit einer Anzeige erhebliche Gefahr für Leib und Leben der Anzeigenden verbunden wären, kann darauf verzichtet werden. Ein Glaubwürdigkeitsgutachten tritt an die Stelle
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