Vater Unser in der Hölle: Durch Missbrauch in einer satanistischen Sekte zerbrach Angelas Seele (German Edition)
sie vorher gelernt, gespürt, geglaubt hatten. Etwas, das sie berührte. Von dem sie mehr haben wollten. Eine vorsichtige, geheime Sehnsucht.
Diese Zweifel durften sie sich unter keinen Umständen anmerken lassen. Doch das war fast unmöglich. Angela Lenz hatte kaum Möglichkeiten, ihre Gedanken vor Onkel Paul zu verbergen. Seit sie zwei Jahre alt war, hatte er sie geprägt. Sie war seine Schöpfung. Zu absolutem Gehorsam erzogen. Keiner ihrer Gedanken durfte ihm verborgen bleiben. Sie hatte das Gefühl, seine Augen würden sich tief in sie hineinbohren und alle verborgenen Gedanken entdecken.
»Hallo«, sagte er, »schön, dich mal wiederzusehen. Wie geht es dir?«
»Gut.«
»Man hört ja anderes. Zum letzten Treffen bist du nicht gekommen.«
»Wir konnten nicht. Wolfgang kam früher nach Hause.«
»Es ist eure Aufgabe, eine Lösung zu finden.«
»Ja.«
»Du weißt, warum ich hier bin?«
»Nein.«
»Wer bist du?«
»Herold.«
»Herold. Warum bin ich hier?«
»Keine Ahnung.«
Da begannen sie mit der Folter. Sie machten es so, dass die Folgen nicht zu sehen waren. Elektroschocks in Körperöffnungen sind äußerst schmerzhaft, aber kaum nachweisbar.
Sie gingen ziemlich weit. Sie waren gut ausgerüstet, hatten sogar ein EEG zum Messen der Gehirnströme dabei, um nicht zu weit zu gehen. Wenn das Opfer eine todesnahe Erfahrung durchmachen muss, sitzen die posthypnotischen Befehle besonders fest. Das ist kein Geheimnis, es ist offizielles Wissen der Verhaltens- und Hypnoseforschung seit den vierziger Jahren.
Angela hatte solche Erfahrungen mehrfach durchmachen müssen. Das letzte Mal kurz nach Beginn der Therapie, als man sie im Wald lebendig begraben hatte. Während eines solchentraumatischen Erlebnisses kommt es zu Dissoziationen. Handelt es sich um eine neue Art der Folter, die noch keiner von ihnen erlebt hat, kann automatisch eine neue Persönlichkeit entstehen.
Damals, im Wald, war Moira entstanden.
Plötzlich war Moira da.
Sie weiß nicht, wo sie ist. Sie weiß nicht, wer sie ist. Sie hat keine Ahnung, was los ist. Sie hat keine Zeit darüber nachzudenken. Ihre erste Wahrnehmung: Ich werde mit Erde zugeschüttet. Ich kann mich nicht bewegen. Ganz viel Erde auf meinen Beinen. Auf meinen Armen. Meiner Brust. Ich muss sterben. Ich kann nichts sehen. Sand in meinen Augen.
Moira schreit um Hilfe: »Hilfe, holt mich raus.«
Die nächste Schaufel Sand landet in ihrem Mund. Sie kann nichts mehr sehen, sie kann nichts mehr hören, sie beginnt zu ersticken.
Es ist aus.
Eine Hand greift nach ihrer Hand. Ein Mann zieht sie hoch. Befreit sie. Er hat sie gerettet.
»Ich habe dich gerettet«, sagt er.
»Danke«, hustet sie, »danke, danke.« Sie kann kaum stehen.
»Weil ich dich gerettet habe, wirst du alles tun, was ich sage.«
»Ja«, sagt sie, »ja, ja, ja.«
Und sie wird es tun.
Moira kennt diesen Mann nicht. Sie kennt bisher niemanden. Sie ist ja gerade erst entstanden. Sie muss glauben, was man ihr sagt.
Falls irgendjemand aus Angelas System diesem Mann schon einmal begegnet sein sollte, irgendwann, vielleicht in einer Klinik, als Therapeut vielleicht – Moira würde das nicht wissen.
Der Zuhälter, der damals im Wald mitgeschaufelt hatte, war froh wie selten, als er wieder zu Hause bei seinen vertrauten Mädels war. Das war ihm doch etwas zu weit gegangen. Man hätte ihm das vorher sagen sollen, was ihn erwartet, dann wäre er nicht mitgekommen.
Aber er hatte dann doch lieber den Mund gehalten.
Als Angela nach einer halben Stunde wieder aus dem Kastenwagen ausstieg, hatte sie Onkel Paul alles geschworen, was er von ihr verlangt hatte. Und sie hatte alles wieder vergessen. Am nächsten Tag spürte sie starke Bauchschmerzen. Den ganzen Tag saß sie mit einer Wärmflasche auf dem Bauch auf der Couch und ärgerte sich über sich selbst. Immer diese Schmerzen ohne Ursache! Hörte das denn niemals auf?
Sag, dass das nicht wahr ist!
»Frau Temberg?« Die Stimme kam von weit her und war kaum zu erkennen. War es Angela?
»Angela, seid ihr das?«
Nina Temberg hatte einen Kurztrip nach Paris gemacht. Sie genoss es, ein paar Tage lang nichts anderes zu tun, als vor kleinen Cafés auf wackeligen Stühlen zu sitzen, die auf dem Kopfsteinpflaster enger Gassen hin und her kippelten, Café au lait zu schlürfen, an der Seine entlangzuschlendern oder auch ein wunderschönes buntes Seidentuch unter Preis zu erstehen.
»Ja. Es ist etwas passiert.«
Es war schon Angela, Nina erkannte die Stimme. Aber
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