Vater Unser in der Hölle: Durch Missbrauch in einer satanistischen Sekte zerbrach Angelas Seele (German Edition)
eine Persönlichkeit.
»Das Persönliche«, davon waren sie überzeugt, »wird doch von der Gruppe bestimmt.«
Gut, sie wussten, dass der eine mehr Schmerzen aushält und ein anderer besser ist beim Ekeltraining. Aber das war es auch schon. Wünsche, Träume, Vorlieben konnten sie nicht an sich wahrnehmen.
Nach dem Sinn des Lebens gefragt, gaben sie Auskunft: »Irgendwie durchkommen und hoffen, dass der Gott oder Satan, an den man glaubt, wirklich der Richtige ist.«
»Natürlich«, davon waren sie fest überzeugt, »ist es Satan. Er lässt uns Menschen am natürlichsten. Er erlaubt die echten Gefühle, auch die ganz tiefen, ursprünglichen Gefühle und Triebe wie Egoismus, Hass, Wut und Gewalt. Wir gehören Satan.«
Und nach dem Sinn der Welt gefragt, sagten sie: »Der Sinn ist es, diesen Ursprung zu bewahren. Und die Aufgabe des Menschen ist es, Grenzen zu zerstören. Auch die inneren Grenzen wie Hemmung, Ekel, Scham. Tötung und Folter sind Befreiungsübungen, um Grenzen zu überwinden. Eine normale Auslese, um später frei bei Satan zu sein. Gott und Buddha und Jehova und all diese Götter machen den Menschen klein, nur Satan macht ihn groß.«
Mit diesem Weltbild, das direkt von Aleister Crowley geschrieben und von Anton LaVey, 42 Michael Aquino, 43 Charles Manson 44 und Michael Eschner 45 hätte unterschrieben sein können, waren sie allein.
Lange Zeit.
Sie fragten sich, ob sie einen Fehler gemacht hatten.
Konnten sie noch umkehren? Ihre Gruppe wartete auf sie. Das wussten sie genau. Sie lasen die Anzeigen, die für sie bestimmt waren, sahen die Fingerzeichen, die man ihnen machte aus vorüberfahrenden Autos.
Sie waren nicht zum verabredeten Termin erschienen. Das war ein schweres Vergehen gegen Satan und die Gruppe. Siewussten, dass jemand anders ihretwegen hatte leiden, vielleicht sogar sterben müssen. Wenn der Verräter nicht greifbar ist, wurde jemand anders als Opfer bestimmt und der Gruppe zur Abschreckung vorgeführt, was mit Verrätern geschieht. Die Reihen müssen geschlossen bleiben, und Abtrünnige sind ein gefährliches Signal. Etwas Stärkeres muss dagegengesetzt werden. Die Sektenkinder kannten so etwas, hatten es schon miterlebt. Hatten schon mitgemacht.
Sie wussten, dass ihnen genau dasselbe bevorstehen würde, wenn sie jetzt zurückkehrten. Satan begrüßt seine verlorenen Söhne nicht mit Liebe und Freude. Seine Umarmung ist tödlich. Trotzdem war die Sehnsucht da. Schmerzhafte Sehnsucht. Es war doch ihre Heimat gewesen.
Es war noch ihre Heimat.
Sollten sie vielleicht einfach mal wieder anrufen? Eine vertraute Stimme hören?
Nur anrufen und schnell wieder auflegen?
Bestimmt existierte die Nummer nicht mehr. Alles war geändert nach ihrem Verrat. Das geschah schon beim geringsten Zweifel: Treffen wurden abgesagt, die Zusammenstellung der Teilnehmer geändert, Orte verlegt, Telefonnummern gewechselt. Bestimmt war die Nummer geändert worden.
Wenn die Nummer geändert war, konnten sie eigentlich ganz ungefährdet anrufen. Dann machte es doch nichts, wenn sie einfach mal anriefen.
Und wenn nicht?
Sie wussten, dass sie einfach nur die Stimme zu hören brauchten, dann würden sie wieder tun, was die wollten. Wie Roboter. Wie Zombies.
Sie riefen nicht an.
Sie wussten, wann »die Termine« waren, wussten, was an Allerheiligen geschah, was zu Pfingsten, an Mariä Himmelfahrt. Am Freitag, dem Dreizehnten. Und zu Ostern. Auch Angela Lenz spürte, wenn sich die Termine satanistischer Feiertage näherten.Anfangs spürte sie es, ohne es deuten zu können: Die ganze Liste der Beschwerden tauchte wieder auf: Bauchweh, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Unterleibsbeschwerden, Kopfschmerzen. Erst als sie anfing, die Schmerzen auf dem Kalender zu notieren, und Nina Temberg eine Zusammenstellung von satanistischen Feiertagen 46 aus England erhielt, begriffen sie beim Vergleich mit Erschrecken die Zusammenhänge.
Die Sektenkinder kannten nicht nur die Termine, sie kannten auch den Ablauf genau. Konnten ihn im Geiste durchspielen. Den Terror. Die Panik. Die Schmerzen.
Aber auch den Rausch. Die Ekstase.
Die Beschäftigung damit war wie eine Sucht.
Aber sie hielten durch.
Schließlich spürte Nina Temberg die fatale Entwicklung und kümmerte sich um die Sektenkinder.
Endlich konnten auch sie ihre Geschichten erzählen.
DIE SEKTENKINDER
»Black Magic Woman«
1970
Willy Brandts Kniefall in Warschau
Ulrike Meinhof befreit Andreas Baader aus der Haft
Prozess gegen Charles-Manson-Gruppe
wegen
Weitere Kostenlose Bücher