Vater Unser in der Hölle: Durch Missbrauch in einer satanistischen Sekte zerbrach Angelas Seele (German Edition)
irgendwie war sie auch anders. Härter. Aber es war keiner der Jungen, die sie kannte.
»Wer ist denn da?«
»Herold. Aber ich bin nicht allein. Wir sind sechs. Wir gehören zu einem anderen System.«
Nina holte wieder mal tief Luft. Hörte das denn niemals auf?
»Enchanté, Herold!«
Nina wollte sich nicht aus der Ferienstimmung holen lassen.
»Wir wollten Ihnen nur sagen, dass wir Christian abgeben sollen. Wir wollen ihn aber nicht abgeben. Wir wissen aber nicht, wie wir das verhindern können. Deshalb haben wir Ihre Hotelnummer rausgefunden und Sie angerufen.«
»Abgeben? An wen?«
»An die Sekte.«
Nina wusste seit langem, dass Angela in der Kindheit Kontakt zu einer satanistischen Sekte gehabt hatte. Was auch immer das heißen mochte. Nina hatte es vermieden, sich näher damit zu beschäftigen. Auf jeden Fall hatte Angela merkwürdige Rituale erlebt, und ihre Zeichnungen waren voll fremdartiger Bilder, die Fachleute satanistischer Symbolik zugeordnet hatten. Nina wollte sich damals nicht tiefer darauf einlassen. Außerdem war das alles zwanzig Jahre her. Es war vorbei.
Oder?
»Das ist doch längst vorbei?«
»Wir mussten immer Kontakt zu denen halten. Nach jeder Therapiestunde mussten wir die anrufen und berichten. Wir mussten für die arbeiten.«
»Sag, dass das nicht wahr ist.« Herold schwieg.
»Sag, dass das nicht wahr ist!«
»Wir haben uns nur gemeldet, damit Christian gerettet wird. Wir haben zwar nichts mit ihm zu tun, er ist nicht unser Sohn, aber wir kriegen mit, dass die anderen ihn sehr gern haben. Frau Temberg, Sie müssen ihn retten.«
Nina spürte etwas, über das sie zu anderen Zeiten schmunzeln musste, wenn sie den Ausdruck in einem Buch las: Ihr Verstand arbeitete fieberhaft. Er warf Fragen aus, Worte, Bruchstücke.
»Wann?«
»Spätestens im Juli.«
Das waren noch drei Monate.
»Warum?«
»Das ist so. Er ist der Erstgeborene.«
»Was soll mit ihm passieren?«
»Sie werden ihn opfern.«
»Warum?«
»Ein unschuldiger Junge bringt die meiste spirituelle Energie mit sich.«
Authentisches satanistisches Gedankengut. Nina Temberg schauderte.
»Und wenn ihr das nicht macht?«
»Dann holen sie uns. Und ihn. Das Schlimme ist, dass wir sie in der übernächsten Woche treffen müssen. Und Moira erzählt dann alles.«
Wer um Himmels willen war Moira? Die kannte sie auch noch nicht.
»Moira wird auch erzählen, dass wir zu Ihnen Kontakt aufgenommen haben. Wir dürfen das nicht. Wir müssen die Welten getrennt halten. Es ist das schlimmste Vergehen gegen Satan. Es ist unser Todesurteil.«
Konnte das wahr sein?
Konnte man sich so eine Geschichte ausdenken?
Was sollte sie tun? Sie musste vom Schlimmsten ausgehen. Wenn sich dann herausstellte, dass es nur eine erdachte Geschichte gewesen war, um die Therapeutin mal im Urlaub anzurufen, okay, das war nicht besonders erfreulich, aber man konnte es bearbeiten, konnte herausfinden, was dahintersteckte.
Aber wenn es stimmte, und sie nahm es nicht ernst?
Nicht auszudenken.
In den nächsten zwei Stunden vollführte Nina per Ferngespräch aus Paris eine therapeutische Leistung, die geradezu akrobatisch war: Sie holte Sarah in den Vordergrund und sorgte dafür, dass der Rest der vertrauten Truppe amnestisch war für das folgende Gespräch – indem sie jeden an seinen sicheren Ort verfrachtete, ob das mit Geheimcode gesicherte Computerdateien waren oder Inseln in der Südsee, Burgen und Schlösser,Verliese, Baumwipfel. Außerdem scharte Paddy, eine besonders sanfte innere Helferpersönlichkeit, die Kleinen um sich und erzählte ihnen Geschichten – lenkte sie ab.
Dann machte Nina Temberg Sarah und Herold miteinander bekannt. Zu dritt hielten sie eine Telefonkonferenz ab. Dabei war Nina immer bewusst, dass im Hintergrund weitere fünf Personen lauschten, die sie noch überhaupt nicht kannte. Und mindestens eine davon war eine hemmungslose Verräterin.
Sie beschlossen, dass die anderen Innenpersonen nichts erfahren würden, bis Nina in der nächsten Woche wieder zu Hause sei. So lange würden sie nachdenken, was zu tun sein.
Das Ergebnis wurde Nina gleich zu Beginn der Stunde mitgeteilt: Sarah musste alle sechs integrieren. Anders ginge es nicht, nur so konnten sie sicher sein, dass Moira nichts verriete, und sie hätten Zeit gewonnen. Sie bestanden darauf, dass sie zu diesem einen Treffen mit den Tätern noch hingehen müssten. Nina konnte das nicht verstehen. Bewusst irgendwohin marschieren, wenn man weiß, man wird vergewaltigt?
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