Vater Unser in der Hölle: Durch Missbrauch in einer satanistischen Sekte zerbrach Angelas Seele (German Edition)
Man kann sich nicht wehren? Darf sich noch nicht einmal wehren? Wahnsinn. Aber sie bestanden darauf.
Nina hatte immer noch Zweifel, und am liebsten wäre sie mitgegangen, aber irgendwo, fand sie, musste sogar ihr therapeutisches Engagement seine Grenzen haben. Sollte sie sich eine Waffe kaufen und sich auf die Lauer legen? Karate lernen und Schnappmesser tragen? Eine Pistole?
Irgendwie war ihr immer noch mulmig.
Dann entdeckte sie, woher das Gefühl kam: Drei Jahre lang hatten fremde Leute bei ihrer Therapie zugehört. Feindliche fremde Leute. Jetzt kannten sie nicht nur ihre Arbeitsweise, sondern wussten auch Bescheid über all die vielen Informationen, die sie im Laufe der Zeit über sich selbst geliefert hatte, kleine, unwichtige Bemerkungen nebenbei, meist ganz belanglos, aber natürlich ergaben sie ein Bild. Gegner, die sie nicht kannte, wussten jetzt, was ihre Vorlieben, ihre Abneigungen, ihre Schwächenund ihre Stärken waren. Wo sie wohnte. Und mit wem. Wohin sie im Urlaub fuhr. In Gedanken machte sie ein Resümee: Was wusste ihre Klientin eigentlich alles von ihr? Und was, fragte sich Nina, die eigentlich sehr verschwiegen war, was erzähle ich Klientinnen von mir?
»Ist gutgegangen«, berichtete Herold, als sie sich das nächste Mal sahen.
Er war ja nicht vergewaltigt worden.
Das hatte Rita getroffen. Aber sie war es gewohnt.
Als Rita von den Verletzungen erzählte, schickte Nina sie zur Frauenärztin.
»Sieht böse aus«, sagte diese.
»Nein, das sind doch keine Verletzungen, die man sich selber beibringt«, fügte sie auf Nina Tembergs vorsichtige Frage empört an.
Nina musste der Tatsache ins Augen sehen, dass es sich tatsächlich alles so zugetragen hatte, wie Herold und die anderen berichteten, die sie inzwischen kennengelernt hatte.
Wie sollte es weitergehen?
Eine richtige Integration hatte nicht stattgefunden. Die sechs Personen standen jetzt »hinter Sarah«, wie sie es nannten. Durch sie geschützt und nur über sie erreichbar.
Das bedeutete aber auch, dass die traumatischen Erinnerungen dieser Personen nun zugänglich waren. Zumindest Sarah hatte schon einige Blicke in das Grauen geworfen.
Es ließ sich nicht weiter hinausschieben: Nina musste mit diesen Personen arbeiten.
Es gab nichts, was sie weniger gern tun wollte. Am liebsten hätte sie die ganze Bande weggesperrt. Sie war das Entsetzen leid und die Folter. Sie hatte den familialen Kindesmissbrauch ihrer Klientin mit durchlitten, »die Onkel«, das Kinderbordell, die Pornoringe, die kommerzielle Ausbeutung der heranwachsenden Kinder. Und nun auch noch das.
Hörte das denn niemals auf?
Die Sechs spürten Nina Tembergs Gefühle genau. Sie fühlten sich abgelehnt und verraten. Sie hatten ihre Gruppe, das Wichtigste in ihrem Leben, hintergangen, um ein Kind zu retten, das sie noch nicht einmal als ihr eigenes empfanden.
Und jetzt waren sie ganz allein.
Die anderen in Angela Lenz lehnten die Gruppe der Sechs ab, empfanden sie als Verräter und konnten kaum verkraften, dass sie in sich eine Gruppe Spione bargen, von denen sie auf Schritt und Tritt beobachtet worden waren. Dass Kontakt zu einer Gruppe bestanden hatte, vor der sie sich längst in Sicherheit geglaubt hatten. Anfangs hatten sie sich geweigert zu sehen, dass ihr eigener Einfluss auf Angela Lenzʼ Leben immer noch viel geringer war, als sie geglaubt hatten. Und das Schlimmste: Dass Sarah überhaupt nichts gemerkt hatte. Ihre Sarah, die sonst alles wusste, der sie vertraut hatten wie sonst niemandem. Wenn sie sich nicht einmal auf Sarah hundertprozentig verlassen konnten, waren sie dann nicht verloren?
Die Alltagspersönlichkeiten waren entsetzt über die Spione und voller Ekel über die Sektenpersönlichkeiten, die noch tief im Untergrund warteten. Sie begriffen überhaupt nicht, dass diese genauso wenig für die Umstände ihrer Entstehung und ihres Lebens konnten wie sie selbst. Wollten einfach nichts von ihnen und ihrer Geschichte hören. Und die Therapeutin wollte das offenbar auch nicht.
Von den Sektenkindern schon gar nicht.
Sie hatten nichts mehr. Das »andere System«, wie das »Alltagssystem« die sechs Persönlichkeiten nannte, fühlte sich vollkommen alleingelassen.
Noch einsamer waren die »Sektenkinder«.
Die Sektenkinder hatten immer nur im Zusammenhang mit einer Gruppe existiert. Für etwas Persönliches gab es keine Berechtigung in ihrem Leben, stets musste es den Interessen der Gruppe untergeordnet werden. Sie hatten gar keine Ahnung, was das ist,
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