Vater unser
emotionale Trauma und die lebensgefährlichen Verletzungen, von denen sich mein Mandant zurzeit erholt, vom Verlust seiner Familie ganz zu schweigen», fuhr Mel Levenson fort und hielt die Freitagsausgabe des Herald hoch: VATER BEI FLUCHTVERSUCH WEGEN MORDES VERHAFTET lautete die schreiende Schlagzeile, « informieren diese Detectives auch noch die Presse – nur um sich im Rampenlicht zu sehen und nebenbei die gesamte Öffentlichkeit mit ihren verdammten Lügen über Dr. Marquette zu beeinflussen. Außerdem wurde er auf die Gefangenenstation gebracht, obwohl er qualifizierte medizinische Betreuung benötigt.» Levenson wischte sich über das feiste Gesicht und trat vom Richtertisch zurück, wobei er beinahe gegen einen Kameramann und Stan Grossbach, seinen Assistenten, stieß. In Lat kochte die Wut hoch. Er sah zu Rick Bellido, der neben ihm saß, und wartete darauf, dass dieser sich zu Levensons Beschwerden äußern würde. Doch Rick schwieg. Derweil hörte Lat von der anderen Seite das Knacken von Fingerknöcheln. Anscheinend wartete Steve Brill auf dasselbe. Da die Menschen an Wochenenden noch mehr Unsinn anstellten als an den übrigen fünf Tagen der Woche, war die Liste von Richter Katz’ Verhandlungen montagmorgens immer besonders lang. Diesmal glich sein Gerichtssaal jedoch einem Irrenhaus. Normalerweise befanden sich bei der Ersten Anhörung nur der Richter, der Gerichtsdiener, ein Staatsanwalt und ein Verteidiger im Saal. Die Häftlinge wurden per Monitor aus dem Gefängnis zugeschaltet. Das ganze Procedere dauerte nicht länger als 30 Sekunden: Der Richter las den Haftbefehl, entschied, ob ein hinreichender Verdacht vorlag, und bestimmte die Kaution. Die Erste Anhörung war normalerweise erledigt, bevor der Häftling überhaupt gemerkt hatte, wo in der Zelle die Kamera hing. Richter Irving W. Katz war ausschließlich für Erste Anhörungen zuständig, seitdem der Oberste Richter ihn in grauer Vorzeit strafversetzt hatte, und im Laufe der Jahre war er entweder dermaßen effizient oder dermaßen gleichgültig geworden, dass er in weniger als einer Stunde hundert Häftlinge abfertigte. Jetzt schüttelte der Richter den Kopf.
« Eine großartige Rede, Mr. Levenson, und sie wird ordnungsgemäß im Protokoll festgehalten. Aber Ihr Mandant wird des Mordes beschuldigt. Des vierfachen Mordes, um genau zu sein. Sie wissen doch, dass ich jemanden, der unter Mordverdacht steht, nicht auf Kaution freilassen kann.» Katz nickte in Richtung des Monitors, auf dem ein bleicher David Marquette in orangefarbener Gefängniskleidung zu sehen war, der mit gesenktem Kopf reglos neben einem Rollstuhl stand.
« Ich prüfe hier lediglich, ob hinreichender Verdacht für eine Festnahme bestand. Und wenn ich mir die Fakten ansehe», fuhr der Richter fort und wedelte mit dem rosafarbenen Haftbefehl, « gibt es daran keinen Zweifel. Ich kann also nichts für Sie tun, als mir Ihre Beschwerden anzuhören, Mr. Levenson, und ich habe ehrlich gesagt keine Lust, den Kummerkasten zu spielen. Außerdem haben die Detectives Ihren Mandanten keineswegs in eine Betonzelle zu den Ratten geworfen. Er liegt auf Station D des Jackson Memorial und wird dort bestens versorgt.»
« Die Betreuung auf der Gefangenenstation ist nicht ansatzweise angemessen, Euer Ehren», widersprach Levenson und wies auf den Bildschirm.
« Schauen Sie ihn sich doch an!» David Marquette verharrte regungslos und schien gar nicht zu registrieren, dass über ihn gesprochen wurde. Lat konnte nicht einmal sagen, ob der junge Arzt in den letzten Minuten geblinzelt hatte. Er stand da, hielt sich mit weißen Knöcheln am Geländer des Podiums fest und starrte vor sich hin, der Blick leer und ausdruckslos. Hinter ihm stand eine Reihe gelangweilt aussehender, tätowierter Verdächtiger in verschiedenen Stadien der Verwahrlosung, die darauf warteten, dass sie an die Reihe kamen. Die Schlange zog sich durch den überfüllten, erbsengrünen Saal bis zur Tür. Drei Wachmänner lehnten an der hinteren Wand, zwei weitere sorgten dafür, dass sich die Schlange ordnungsgemäß vorwärtsbewegte. Da die Erste Anhörung innerhalb von vierundzwanzig Stunden nach der Verhaftung stattfinden musste, trugen viele der Häftlinge Schlafanzüge oder Boxershorts – die Kleidung, in der sie in der Nacht zuvor festgenommen worden waren. Nun wurden die Männer langsam unruhig und fingen an, sich zu unterhalten.
« Sorgen Sie gefälligst für Ruhe!», schnauzte Richter Katz die Wachmänner über den
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