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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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anzugeben. Als wir ihn zum ersten Mal sahen, hielten wir ihn für ein krankes Jungtier, das sich mit ungewöhnlichen Mitteln zu behaupten suchte. Er gab den anderen Männchen funkelnde Steine, mit denen sie sich die Weibchen gewogen zu machen versuchten. Er gesellte sich zu den Weibchen, wenn sie sich putzten und plapperten, flirtete schamlos, nahm jedoch bei der ersten Annäherung Reißaus. Mit der Zeit schien dieser Omegajunge gegenüber den Alphamännchen eine gewisse Überlegenheit an Charme und Listigkeit erlangt zu haben. Er steht sichtlich außerhalb der Hackordnung, wie sie sich bei den anderen Stämmen durchgesetzt hat, und schuf damit eine Rolle, die die gesamte Struktur des Zusammenlebens der Affenmenschen veränderte.
     
    Er lässt die Futterplätze der anderen weit hinter sich und kehrt oft mit Geschenken zurück – Halsketten, die er aus Dichtungsringen, Nüssen und Spindschlüsseln anfertigt, alles von dem mit Abfällen übersäten Boden aufgelesen. Gelegentlich bringt er Pilze oder Blätter mit, und dann sind sie alle bald völlig breit und auf dem Trip, feiern Orgien, kichern und kotzen. Und obwohl die hochrangigeren Männchen ihn an so manchem verkaterten Morgen mit Steinen verjagen, scheinen sie seinen willkürlichen, tänzelnden Ausflügen in die Grenzgebiete gerne zu folgen. Wenn der massige Anführer des Stammes in der nachmittäglichen Dämmerung aufwacht und den Blick über das Land schweifen lässt, scheint er sich immer für die Richtung zu entscheiden, in der das Jungtier sitzt, das wir Jack nennen. Und Jack stochert mit einem Grashalm zwischen seinen Zähnen herum und trällert fröhlich vor sich hin.
    Eben diese Eigenschaft unterscheidet ihn meines Erachtens am meisten von seinem Klan.
    Jack singt.
     
    Während die anderen die komplexeren Laute nur dazu verwenden, um sich bei jemandem einzuschmeicheln oder etwas einzufordern, um zu gurren oder zu kichern oder ihre Wut hinauszuschreien, singt dieser findige Sammler von Drogen und funkelnden Steinfetischen in einer clever ausgedachten Grammatik. Fast scheint es, als gehe er planvoll vor, als erzähle er eine Folge von Ereignissen, eine Geschichte darüber, wo er überall gewesen ist und was er erlebt hat, ein äußerst bezauberndes Kauderwelsch. Und wenn das vielleicht auch noch nicht Sprache ist, so bin ich doch überzeugt, dass wir es hier mit ihren Wurzeln zu tun haben.
    Manchmal frage ich mich, ob er der Erde antwortet – denn hier oben im Vorgebirge des Mount Oblivion sind Geräusche zu hören, die ... verstörend sein können. Von Zeit zu Zeit verfolge ich ein leises Brummen bis zu seinem Ursprung und stoße auf einen auseinandergezogenen Maschendrahtzaun, in dem sich der Wind verfängt, oder ich folge einem abgehackten Klimpern und entdecke eine Blue Steel -Gitarre, die halb den Abhang einer Mülldeponie hinuntergerutscht ist und deren letzte gerissene Saite noch in der Luft schwingt. Überall ächzt und stöhnt es, irgendwo rieselt Erde hinunter, und manchmal, wenn es dämmert und alles am lautesten zu sein scheint, klingen die Geräusche fast melodisch, auf eine atonale, modernistische Art und Weise.
    Während der Abenddämmerung singt auch Jack am lautesten, und wenn er um die zusammengedrängten Gestalten des Klans herumspaziert, springt er oft ein paar Schritte davon, zum Rand des Kreises hin, und singt, als wende er sich an das Zwielicht.
     
    Die anderen haben offenbar keine Ahnung, was er da treibt und was das soll, aber sie lauschen gespannt, von einer misstrauischen Ehrfurcht erfüllt, einem ängstlichen Respekt vor diesem hüpfenden Vogelmann aus der Traumzeit. Retter und Scharlatan, Held und Narr, Schurke und weiser Mann – ein Quacksalber, der Lügen und Illusionen verkauft, der sie mit dem theatralischen Hütchenspiel seines Gesangs verzaubern möchte. Ich glaube, dass sie ihm, ohne es zu wissen, auf einer Reise in seinen eigenen Geist hinein und durch das Vellum hindurch folgen. Keiner der anderen Stämme, denen wir begegnet sind, hielt sich so genau an unsere Route um den Mount Oblivion. Alle sind sie nach Osten oder Westen abgebogen, als künde der bedrohliche Turm von einer entsetzlichen Macht, der man nicht zu nahe kommen darf. Jack dagegen scheint entschlossen zu sein, sie um den Berg herum zu führen. Manchmal denke ich, dass er es ist, der uns folgt ... und der uns dabei vorausgeht, sofern das einen Sinn ergibt.
    In gewisser Weise erinnert er mich an den Jack, den ich einst gekannt habe; ich kann

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