Vellum: Roman (German Edition)
verstehen, warum Puck ihm diesen Namen gegeben hat. Aber wie Puck auch scheint er mit gröberem Pinselstrich gemalt als der draufgängerische Junge aus meiner fernen Vergangenheit. Im Vellum scheinen wir alle unserem innersten Wesen entgegenzustreben, einer sonderbaren Eintracht mit den zahllosen Versionen unserer Seele, in den Übereinstimmungen wie in den tiefer liegenden Mustern, die von den Unterschieden nahe gelegt werden. Die Hindus behaupten, der Körper verfüge über fünf Seelen, fünf Skanda . Die alten Ägypter kannten sieben Seelen. Ich frage mich, ob wir nicht eine unendliche Zahl von Seelen haben oder nur eine, die in unendlich viele Teile zersplittert ist.
Ist es das, was am Ende unserer Reise auf uns wartet, auf der letzten Seite des Ewigen Stundenbuches – ein Ort, an dem alle Versionen eins werden, wo jeder auf eine vollkommene platonische Form seines Selbst zurückgeführt wird? Und welchen Jack würden wir dort antreffen? Was hätte dieser Jack mit meinem Jack gemeinsam und mit Pucks Jack? Ein Funkeln in den Augen? Ein strahlendes Lächeln? Oder nur einen Namen, ein Wort?
Ich muss zugeben, das beunruhigt mich ein wenig. Ich schaue diesen Jack an und denke an den Jack in meinen Erinnerungen, und wenn es ein Wort gibt, das ihr beider Wesen erfasst, dann ist das Feuerkind .
3
Von Mammon und Moloch
Jumpin’ Jack Flash
Die Tür des Drahtseilschiffs explodiert nach außen, und ich hechte hindurch, während hinter mir die ganze Konstruktion aufheult und sich verformt. Die zeppelinförmigen Strahlentanks platzen, und ekelhafter giftiger blaugrüner Dampf schießt heraus, eine Wolke orgongesättigter Gase. Die Passagiergondel platzt auf, als das gewaltige Gewicht des Gefährts seitlich wegkippt — die Gyroskope drehen durch. Das verwundete Drahtseilschiff rast in eine kleinere Gleitbahn hinein, Kabel reißen und Drähte peitschen durch die Luft. Einer zischt so nahe an mir vorbei, dass ich ihn zu fassen bekomme. Meine Schlangenlederschaftstiefel schlagen Funken, ein Lichtbogen zuckt über den Himmel. Die zweite Bombe explodiert.
Es ist 1999. Verdammte Hacke, es ist immer 1999.
Geduckt lande ich auf einer stählernen Signalbrücke und mein schwarzer Überzieher bauscht sich auf, als die Gleitbahn in wilder Schlingerfahrt durch Signale und über Weichen rasselt und schließlich in Flammen aufgeht. Über mir richtet das Drahtseilschiff, die Iron Lady, ihren Bug himmelwärts — ein Anblick, der an die Hindenburg und die Titanic erinnert. Eine blaue Aura legt sich knisternd um meine behandschuhte Hand und ich spüre, wie sich meine Haare aufrichten; in den nächsten Tagen brauche ich bestimmt kein Haargel. Ein Geruch von Ozon liegt in der Luft. Aber ich stehe eh schon völlig unter Strom und fühle mich großartig.
Flugs und flink ziehe ich mein Zippo aus der Tasche, schnippe es auf, zünde eine Stange Dynamit an und werfe sie. Ein Sprung und noch einer, von Signalbrücke zu Träger, von Träger zu Pfeiler, und ich habe wieder festen Boden unter den Füßen, während die Explosion ein Eisengestänge in winzige Stücke reißt, die auf die vernieteten Stahlplatten der Brücke niederprasseln — die Brücke, auf der das Seilschiff den Fluss überquert, zum Hauptbahnhof hinüber. Mein Blick folgt ihm zum Bahnhof, schweift über die Sandsteintürme und Mauern und Schornsteine, den feudalen Prunk des Gitterdaches aus Glas und Stahlträgern — das alles gleicht einem riesigen viktorianischen Gewächshaus. Das Drahtseilschiff gleitet unaufhaltsam darauf zu, in dichte Wolken orgongesättigter Gase gehüllt. Flammen schießen empor, Schrapnell fliegt durch die Luft. Scharf.
Die dritte Bombe geht genau im richtigen Augenblick hoch, und die Orgondüsen — der Stolz von Cavor-Reich — explodieren, kurz bevor das Drahtseilschiff seinen von der natürlichen Trägheit gebremsten Schwung verliert. Ein Feuerball von dreihundert Tonnen überschlägt sich und kracht in das Glasdach des Hauptbahnhofs. Wirklich scharf.
Mir ist klar, dass die Hüter nicht lange auf sich werden warten lassen, und ich ziehe meine Qi-Pistole, eine Curzon-Youngblood Mark I, die Lieblingswaffe der Gaijin-Ninja. Moderne Marken und Modelle mögen ihre Vorteile haben, aber das Original dankt einem die Kunstfertigkeit und die Sorgfalt, mit der es gebaut wurde, mit Zielgenauigkeit und einer Durchschlagskraft, die von keiner anderen Waffe erreicht wird. In den Händen eines Profis ist die Mark I von tödlicher
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