Vellum: Roman (German Edition)
Schönheit.
Durch die blaue Tönung meiner Mayabrille bewundere ich den riesigen, bei Clyde gebauten Molotowcocktail und die hübsche Feuerblume, in die er den Hauptbahnhof verwandelt. Schock und Ehrfurcht, ihr Wichser, Schock und Ehrfurcht.
Waffenfähiges Adamantium
Dr. Reinhardt Starn nimmt die Polizeiakte auf dem Bildschirm seines Laptops und den Gefangenen auf der anderen Seite seines Schreibtischs genau unter die Lupe. Beschreibung des Verdächtigen: mittelgroß, männlich, weiß, ungefähr zwischen 20 und 25 Jahre alt, gebleichter Punkhaarschnitt, provokant gekleidet. Stern hat jemanden vor sich, der sorgfältig das Selbstbild eines Rebellen kultiviert.
»Wissen Sie, warum ich hier bin?«, fragt er.
Keine Antwort.
»Ich bin klinischer Psychologe und in beratender Funktion für die Behörden tätig. Meine Aufgabe ist es, festzustellen, ob Sie verhandlungsfähig sind. Ihnen ist klar, dass Ihnen vorgeworfen wird, mehrere Menschen getötet zu haben?«
Keine Antwort.
Die Polizeiakte gibt nur eine kurze Zusammenfassung: Bei den ›Spartakus-Morden‹ tatverdächtig; auf der Flucht vom Tatort verhaftet. Zur psychiatrischen Untersuchung eingewiesen, weitere Nachforschungen stehen noch aus. Möglicherweise Mitglied einer anarchistischen Terrorzelle – das steht jedenfalls in der Akte, aber Starn hält die Idee, er könnte einer modernen Baader-Meinhof-Bande angehören, gelinde gesagt für äußerst unwahrscheinlich. Das ist kein Mannschaftsspieler, das ist ein einsamer Wolf.
Der Bildschirm verrät ihm, dass der Verdächtige sich weigert, seinen Namen preiszugeben. Die Suche in den Polizeiakten blieb erfolglos ... auch die DNA-Datenbanken gaben nichts her. Keine Sozialversicherungsnummer, denkt Starn. Kein Bankkonto, keinen Pass. Er kann keiner legalen Arbeit nachgehen oder Arbeitslosenhilfe in Anspruch nehmen – nicht ohne Personalausweis.
Kein Personalausweis. Man muss schon in der Wildnis geboren und von Wölfen aufgezogen worden sein, wenn man heutzutage keinen Personalausweis hat.
»Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich Ihnen ein paar Fragen stelle?«, sagt Starn. »Also gut. Wenn ich mich nicht täusche, nennen Sie sich ›Jack Flash‹. Darf ich Sie fragen, für was das steht?«
»Jack der Riesentöter, Jack the Ripper, der sprunggewaltige Jack, ja, Jack der Wunderknabe, Jack ist überall und nirgends, eine Legende wird Wirklichkeit. Jack ist wieder da!«
»Hmm. Aber ›Jack Flash‹. Das stammt doch aus einem Lied. Von den Rolling Stones – Jumpin Jack Flash ...«
»He’s a gas gas gas ... wusch ... Jack Flash der Feuerblitz Flash Gordon Flesh Gordon Fleisch ... Möse.«
Starn legt den Finger auf das Trackpad des Laptops, verkleinert ein Fenster und öffnet ein weiteres, um seine Eindrücke zu notieren: Patient weist im Gespräch einige der klassischen Symptome von Schizophrenie auf – Wortspiele, symbolische Fixierungen, Bedeutungsverschiebungen –, wirkt aber kohärenter/ansprechbarer, als erwartet. Sich seiner selbst nur allzu bewusst. Möglicherweise ein Grenzfall/ein Soziopath, der seine psychotischen Wahnvorstellungen nur vortäuscht?
»Aber das ist nicht Ihr wirklicher Name, oder doch?«, fragt Starn.
»Nun, Sie kennen das doch sicher – manchmal hat man was, von früher, und dann ist es plötzlich weg.«
»Dann werden wir wohl Jack zu Ihnen sagen müssen. In Ordnung?«
Jack mustert den Psychologen über den Tisch hinweg – so kalt wie ein Stumpen zwischen den Zähnen eines Landstreichers. Aber ein wenig ärgert es ihn schon, dass sie einen solchen Amateur geschickt haben. Er hätte gedacht, dass er ihnen wenigstens einen pinterianischen Psycholinguisten wert gewesen wäre – die waren wirklich spaßig. Aber nein. Diesem Affenautomaten sieht er doch bei jedem Rucken und Zucken an, was er denkt. Jedes Wort, das er sagt, verrät ihn, und jedes Wort, das er nicht sagt, erst recht. Jeder Blick von seinen Notizen zum Patienten, jedes Räuspern und jedes Innehalten ... er riecht geradezu nach heimlichen Ängsten und unanständigen Begierden.
»Klar«, sagt Jack.
Er sagt sich, dass der Quacksalber in Wirklichkeit ein Geheimagent ist, der die Kunst des Sprachkampfes beherrscht und ihn ganz raffiniert auf die Probe stellt. Es ist nie klug, seinen Gegner zu unterschätzen, aber, verdammt, dieser Scheißkerl lässt ihm keine Wahl. Was soll das alles? Wissen sie nicht, wen sie da geschnappt haben? Fast könnte man meinen, sie hätten noch nie von Jack
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