Venedig sehen und stehlen
Ecke bei »Gia Schiavi«, einer kleinen Enoteca ganz in der Nähe des Campo San Trovaso. Auf dem Platz hielt eine Gruppe Schwarzafrikaner Siesta. Die Straßenhändler sortierten ihre falschen Gucci-Täschchen und präparierten sie mit Zeitungspapier. Von dem Ponte San Trovaso fielen die beiden praktisch in den Stehimbiss hinein. Hinter den Glasscheiben einer altehrwürdigen Vitrine stapelte sich eine beeindruckende Auswahl von cicchetti, kleinen belegten Broten mit allen möglichen Fischen, Pasten, Würsten, Gurken und Pasteten. An den Wänden standen in vier Reihen Hunderte von Weinflaschen. Sie begnügten sich mit einem kleinen Glas Prosecco. Aber einen zweiten Teller mit ein paar Häppchen musste Harry an der Theke nachordern. Zoe hatte trotz der Hitze einen unglaublichen Appetit. Am Nachmittag allerdings spukte sie den Mittagsimbiss Häppchen für Häppchen wieder aus. Harry schüttelte besorgt den Kopf.
»Darling, du musst dir hier einen richtigen Virus eingefangen haben.«
»Ich weiß es auch nicht«, sagte sie, »es ist komisch.
Ich hab ja gleich danach immer wieder Appetit. Und mein Darm ist bisher auch vollkommen in Ordnung.«
Abends konnte Zoe tatsächlich schon wieder die üppigsten Pastaportionen verdrücken. Sie zogen sich um, Harry einfach nur Jeans und ein weißes Hemd und Zoe ein schwarzes Etuikleid aus grobem Baumwollstoff mit einem eckigen Ausschnitt, der ihre Schlüsselbeine betonte.
»Das Kleid kenne ich ja gar nicht«, sagte Harry.
»Zu Hause mochte ich es nicht anziehen. Sondra hat es entworfen und mir im Frühjahr eins geschenkt.«
Ihr Lippenstift leuchtete röter als sonst, als sie ihn anlachte.
Sie fuhren zu einem Fischrestaurant zur Giudecca hinüber, dem »Ai Tre Scalini«, einem Geheimtipp von Beat Burger. »Ganz einfach, aber der beste Fisch in ganz Venedig«, hatte der Lackfabrikant gesagt.
Harry hatte kurz gezögert, zur Giudecca zu fahren. Er wollte nicht an den toten Großgondoliere erinnert werden und Franca musste er auch nicht unbedingt begegnen. Aber das konnte überall sonst in Venedig genauso passieren. Statt Franca trafen sie dann Britt Benning und ihren Mann im »Tre Scalini«. So ganz war den Kunstfreunden dann doch nicht zu entkommen.
»Ciao, Harry«, rief Britt laut herüber, als er zusammen mit Zoe das Lokal betrat. Harry machte die drei miteinander bekannt.
»Das ist sie also, deine amerikanische Frau.« Britt sah Zoe prüfend an, wie Frauen das machen, wenn sie sich taxieren.
Zufrieden stellte Harry fest, dass Britts Blick Anerkennung ausdrückte. Britt trug weite weiße Baumwollhosen, eine weiße Bluse und darüber dann doch wieder eine kurze Weste mit Stickereien in dem unvermeidlichen Rot. Um ihren Hals schlang sich eine monströse Schmuckkreation aus Metall, die Britt im Laufe des Abends immer wieder abnahm und unter dem Beifall der Deutschen am Nebentisch in neue Formen brachte. Beat trug natürlich wieder sein currygelbes Sherlock-Holmes-Jackett mit den Riesenkaros.
Harry und Zoe blieb gar nichts anderes übrig, als sich zu den beiden zu setzen. Und ihnen blieb auch keine Wahl, etwas anderes zu nehmen als das Tagesgericht, die Tagliatelle mit Hummer.
»Man muss ein bisschen pulen. Aber es ist köstlich«, sagte Britt, die ausnahmsweise mal nicht auf einer halben Portion bestand.
»Wir können mit einem Lobster umgehen«, versicherte Zoe. »Maine, der Lobster-State ist gar nicht weit weg von uns.«
Was waren schon vierhundert Meilen in den USA, dachte Harry.
Das gemeinsame Essen mit Britt und Beat war sehr entspannt. Das »Ai Tre Scalini« war ein schmuckloser Raum, der von kaltem Neonlicht ausgeleuchtet war. Auf den Tischen lagen mehrere Plastikdecken übereinander. Und auf dem Weg zum WC standen nebeneinander zwei Tiefkühltruhen. Nur das Fußballfoto fehlte. Das Lokal wurde von zwei Frauen betrieben. Es war einer dieser Geheimtipps, den irgendwelche New Yorker Banker oder Zürcher Werbefritzen großspurig zum besten Fischrestaurant der Welt erklärten. Die Pasta in der scharfen roten Soße, die das Aroma der Schalentiere angenommen hatte, war tatsächlich köstlich. Und besonders gut waren die Hummerscheren und Beine, die zerkleinert und angeschlagen waren, damit man das Fleisch herausbekommen konnte. Dadurch mischte sich der Hummer mit dem scharfen Sugo. Alle hatten sich eine Serviette ins Hemd oder in den Ausschnitt gesteckt. Sie aßen mit Fingern und Hummergabel und tranken den Hauswein in der Literkaraffe.
»Den Ansprüchen unseres Freundes
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