Venedig sehen und stehlen
fragte der Herr mit dem tiefen Scheitel ins Leere und hielt seine Handtasche fest umklammert. In Venedig muss man seine Taschen immer unter Kontrolle haben, dachte Harry.
»Wir hätten doch besser die Lagunenfahrt ›Venedig bei Nacht‹ buchen sollen«, sagte seine Frau, als hätte sie den Ärger mit der Polizei schon geahnt.
Im Raum des Portiere hatte die Polizei ein kleines provisorisches Büro eingerichtet. Der dicke uniformierte Beamte bat das Performancepublikum paarweise oder auch zu dritt und manchmal zu viert in das Verhörzimmer. Schon beim Aufnehmen der Namen geriet der kleine Ispettore mit dem sorgfältig gestutzten Schnauzer mächtig ins Schwitzen.
An allen Ausgängen standen uniformierte Beamte, die ziemlich wichtig blickten und verhinderten, dass jemand vorzeitig die Veranstaltung verließ. Die Leute stellten sich auf Wartezeit ein und fanden das sogar amüsant. Nur die Turmfrisur und ihr Mann rannten aufgeregt zwischen der kubistischen Nackten und Braques »Trauben« auf und ab. Der Mann sah ständig auf die Uhr. Offenbar hatten die beiden einen strengen Reiseleiter. Überall hatten sich kleine Grüppchen gebildet, die aufgeregt diskutierten.
»Incredibile! Unfassbar!«, meckerte Giovanni-Dieter unaufhörlich. »Die müssen das Bild ja während der Veranstaltung von der Wand genommen haben.«
»Schon irgendwie aufregend, oder?« Britt schien in ihrem Element zu sein. »Beat und ich haben so etwas noch nie erlebt. Jemand von euch?«
»Ich bin auch noch nie bei einem Kunstdiebstahl dabei gewesen«, gestand Doris. »Es muss ja wohl wirklich gerade passiert sein, während wir nebenan gesessen haben.«
»Für mich ist es auch das erste Mal«, sagte Zoe und lachte. »Ich glaube, Harry passiert das öfter. Oder Darling?« Die Umstehenden lachten.
»Und wo war die Museumsaufsicht?«, nölte Giovanni-Dieter. »So etwas kann aber auch wirklich nur in Italien passieren. Der Italiener ist einfach nicht in der Lage … Aber was reg ich mich überhaupt auf?«
»Während des Sirenenkonzerts müssen die Diebe in aller Seelenruhe das Bild abgehängt haben. Denn vorhin hing der Miró doch noch, oder?«, stellte Beat fest.
»Richtig unheimlich.« Hans-Dieters Lover Roberto lief augenscheinlich gerade ein wohliger Schauder über den Rücken.
»Ich sollte ein Haiku über den Bilderdieb schreiben«, sagte Doris und Harry fühlte sich fast geschmeichelt.
Der Tatort im Ostflügel war mit rot-weißem Plastikband abgesperrt. Unter dem leeren Platz, wo der Miró gehangen hatte, kniete ein Mann von der Spurensicherung. Peggy Guggenheims ehemalige Küche, ihr Gäste- und Ankleidezimmer mit den Pollocks, Bacons und Kandinskys waren ebenfalls gesperrt. Überall standen jetzt Polizisten.
Zwischendurch rauchte Harry unter Polizeiaufsicht auf der Terrasse eine Zigarette und überprüfte dabei möglichst unauffällig den Sitz seines Gehgipses. Und dann mussten Zoe und er noch mal einen Blick auf den Giacometti werfen. Dieser Raum war zugänglich. Der Diebstahl der Skulptur war also noch nicht bemerkt worden. Nachdem Zoe zu der Plastik gesehen hatte, nickte sie ihm billigend zu. Harry dagegen fand jetzt, dass die Figur doch ziemlich nach Plastilin aussah. Er sah natürlich auch jeden Fehler. Aber allzu intensiv wollten die beiden ihr Werk auch nicht anstarren.
»Ja, wir Schwyzer sind stolz auf unseren Giacometti.« Harry zuckte zusammen. Er hatte Beat Burger gar nicht kommen sehen. »Schön, oder?«, sagte Beat, diesmal besonders schwyzerisch und legte lächelnd den Kopf schief.
»W-w-wunderbar«, stotterte Harry. Zu ausführlicheren Erörterungen über Alberto Giacometti war er jetzt überhaupt nicht aufgelegt.
»Mein Mann hat schon gedacht, das wär der Ötzi«, funkte jetzt auch noch die Turmfrisur mit der Wollstola dazwischen. »»Stehende Frau‹? Ich weiß nicht, von einer Frau kann ich nicht viel erkennen.«
Kein Wunder, ist ja auch nicht der Echte, dachte Harry bei sich. Er bemühte sich, Beat und diese Kunstbanausin aus dem Giacometti-Raum zu lotsen.
Seine Handflächen waren kalt und feucht. Das Bein war auf einmal so schwer und wuchtig, als befände sich die halbe Skulpturensammlung von Peggy Guggenheim in seinem Gips. Der falsche Giacometti durfte zu diesem Zeitpunkt auf keinen Fall entdeckt werden. Wer weiß, vielleicht käme der Commissario dann auf die Idee, seinen stattlichen Gehgips etwas genauer unter die Lupe nehmen. Und von dem Bootssteg am Canal Grande sollte die Polizia sich bitte schön auch
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