Venezianische Verlobung
Bruder im Elend verkam. Kein Wunder, dass es ihn, Maximilian, in die Fremde trieb.
Da die Novara tagsüber nicht auf die Leuchtfeuer angewiesen war, sondern einen direkten Kurs steuern konnte, hatte die Überfahrt nach Venedig lediglich sechs Stunden gedauert. Sie hatten vor einer knappen Stunde an der Riva degli Schiavoni festgemacht, und Maximilian hatte sofort einen Matrosen auf die questura geschickt.
Um der Bitte, die er an den Commissario richten würde, mehr Nachdruck zu verleihen, hatte Maximilian kurz erwogen, die Uniform mit dem Tigerfell anzulegen, mit der er vor einer Woche die mexikanische Delegation so schwer beeindruckt hatte. Doch dann hatte er den Gedanken verworfen.
Denn im Gegensatz zu seinen zukünftigen mexikanischen Landsleuten ließen sich die Venezianer durch Äußerlichkeiten wenig beeindrucken. Er musste sich also ganz auf die Kraft seines Wortes verlassen – und auf die Demonstration seines Scharfsinns. Und das würde ihm nicht schwer fallen.
Zu behaupten, dass vor drei Stunden auf dem Achter deck der Heilige Geist über ihn gekommen war, wäre ein wenig übertrieben gewesen. Aber irgendetwas in der Richtung war über ihn gekommen – so völlig unerwartet, dass er einen entzückten Schrei ausgestoßen und sich von dem Ersten Offizier, der gerade die Luvtreppe heraufkam, einen irritierten Blick eingefangen hatte.
Im Grunde war die Lösung kolossal simpel – man musste nur darauf kommen. Der Commissario jedenfalls war nicht darauf gekommen. Er würde staunen, dachte Maximilian, ihn vielleicht sogar ein wenig bewundern – und schon aus diesem Grund bereit sein, ihm ein zweites Mal behilflich zu sein.
Maximilian löste seinen Blick vom Spiegelbild seiner Uniform und trat an das Kajütfenster. Erst jetzt fiel ihm auf, dass das Wetter aufgeklart hatte. Der unangenehme, nach links drehende Wind, der kurz vor ihrer Einfahrt in die Lagune aufgekommen war, schien sich wieder gelegt zu haben. Zwei kreischende Möwen schwebten mit regungs losen Schwingen über den Mastspitzen der Erzherzog Sigmund, die auf der anderen Seite des Anlegers festgemacht hatte, und ein stämmiger Schlepper mit hektisch sich drehenden Schaufelrädern kam langsam aus dem Giudecca-Kanal. Maximilian sah die schmutzige, sich am Himmel hinziehende Rauchfahne, die er hinterließ, und die zwei langsam zerfließenden Schaumstreifen auf dem Wasser.
Auf der Überfahrt hatte er Trons Bericht über den ver unglückten Austausch, der ihn in Triest erreicht hatte, wieder und wieder gelesen. Er hatte sich in den beigefügten Grundriss des Hauses vertieft und über den Photographien meditiert, die von den Schriftzeichen an der Wand angefertigt worden waren. Der Bericht selber bestand aus zwölf akkurat beschriebenen Bogen im Kanzleiformat, auf denen der Verlauf dieser Nacht Punkt für Punkt festgehalten wurde – ein Bericht, der sich nicht zu Spekulationen hinreißen ließ, nichts beschönigte und nichts erklärte, sondern sich darauf beschränkte, ein möglichst akribisches Bild der Geschehnisse jener Nacht zu geben.
Auch bei der Deutung der Buchstaben und Ziffern an der Wand übte der Commissario Zurückhaltung. Entweder – hatte er ausgeführt – handelte es sich dabei um eine codierte Nachricht, oder – das war die andere Möglichkeit, die er für denkbar hielt – die Buchstaben und die Ziffern ergaben überhaupt keinen Sinn, waren ein reines Zufallsprodukt, von einem Mann geschrieben, dessen Geist bereits vom nahenden Tod umflort war.
Diese Vermutung mit dem Zufall und der Sinnlosigkeit gefiel Maximilian. Für seinen kaiserlichen Bruder hatte immer alles einen tieferen Sinn – speziell, dass das Schicksal ihn, Franz Joseph, zum Kaiser gemacht hatte und nicht seinen Bruder Maximilian. Es war echt zum Lachen.
Allerdings würde man feststellen, dass in diesem Fall weder das eine noch das andere zutraf. Weder war die Botschaft codiert, noch war sie sinnlos. Und wenn man in die richtige Richtung dachte (eine Richtung, die eigentlich auf der Hand lag, fand Maximilian), dann war das Entziffern der Botschaft kein Problem. Nur dass es außer ihm niemandem aufgefallen war. Maximilian grinste. Im Grunde lief es auf eine Binsenweisheit hinaus: Manche Leute hatten den Dreh raus, andere nicht.
Hinzu kam, dass Beust auf interessante Neuigkeiten gestoßen war. Der Kapitänleutnant hatte tatsächlich ein paar Dinge herausgefunden, die seine Lösung abrundeten – ihr gewissermaßen den letzten Schliff gaben. Die
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