Venezianische Verlobung
entfernt zu sein.
Trons Verstand war nicht weniger klar, aber das Gefühl, alles in einem Spiegel zu betrachten, der die Dinge grotesk verzerrte, war plötzlich wieder da. Er wusste, dass er Angst hatte, aber verglichen mit dem Gefühl, dass seine gewohnte Umgebung jeden Tag mehr aus den Fugen geriet, war diese Angst bedeutungslos. Wer hätte vor zwei Wochen gedacht, dass der Polizeipräsident (in gelben Socken) für die Freiheit des künstlerischen Wortes eintreten würde? Dass der Emporio della Poesia seine Gedichte veröffentlichen würde? Dass er, Tron, ein junges Mädchen zum Straßenraub anstiften und anschließend einen Einbruch begehen würde? Und dass er langsam, aber sicher verrückt wurde? Was natürlich – so wie die Dinge lagen – niemandem auffallen würde.
Da Tron es für ausgeschlossen hielt, dass Gutiérrez Photographien, die das Schicksal des mexikanischen Kaiserreiches entscheiden könnten, im Vorzimmer aufbewahrte, begann er mit der Suche im Empfangszimmer. Hier waren, im Gegensatz zum Vorzimmer, die Vorhänge vor den Fens tern sorgfältig geschlossen, und Trons Augen brauchten einen Moment, um sich an das Dämmerlicht im Raum zu gewöhnen. Zwei Fünkchen aus mattem Licht schwebten dicht vor der Wand zum Hotelflur. Als Tron näher trat, sah er, dass es sich bei den Pünktchen um winzige Flammen hinter einem Schirm aus rundem Milchglas handelte. Darunter kam ein Rohr aus der Wand, auf dem ein drehbarer Griff aus Messing angebracht war – der Regulator für die Menge des in die Lampe strömenden Gases. So also sah die neue Gasbeleuchtung aus, die in den Zimmern des Danieli installiert worden war.
Die drei Schubladen des Schreibtisches waren unver schlossen, und insofern überraschte es Tron nicht, dass er sie vergeblich nach den Photographien durchsuchte. Auf der Ablage direkt neben dem Schreibtisch hatte Gutiérrez einen Stapel Akten deponiert, aber die Durchsicht des Stapels ergab erwartungsgemäß nichts. Eine hochbeinige Kommode mit zwei Schubladen-Attrappen (Tron hatte an den Griffen gerüttelt) enthielt unter einer aufklappbaren Deckplatte eine Batterie von Gläsern, daneben eine Metallwanne, in der auf einem Bett aus zerstoßenem Eis ein halbes Dutzend Champagnerflaschen standen. Auf einem Konsoltisch unter den Gaslampen stapelten sich italienische und französische Zeitungen. In einem bräunlichen Umschlag, der unter einem Exemplar des Moniteur lag (Trons Herz fing törichterweise an zu klopfen), hatte Gutiérrez Zeitungsausschnitte gesammelt, die sich auf die Aktivitäten der französischen Armee in Mexiko bezogen.
Tron ging weiter ins Schlafzimmer (auch hier waren die Vorhänge geschlossen) und lehnte sich einen Moment lang mit dem Rücken an die Wand. Er registrierte ein großes Doppelbett, einen Kleiderschrank, daneben zwei Schrankkoffer, einen Waschtisch und drei Stühle.
Wo würde er selber solche Photographien verstecken?
Zwischen seinen Socken und seinen Frackhemden? Unter seiner Matratze? Da Tron sich nicht zwischen Matratze und Frackhemd entscheiden konnte (und Gutiérrez wahrscheinlich ganz andere Entscheidungen getroffen hatte), fing er einfach damit an, die Schublade des Waschtisches zu durchsuchen. Sie enthielt einen Rasierpinsel, ein Stück Mandelseife aus Florenz, zwei Rasiermesser und einen Reisespiegel. Sonst nichts. Tron wandte sich dem Kleiderschrank zu.
Er betastete drei Fräcke, sechs Gehröcke, einen Pelz und einen schwarzen, klerikal aussehenden Mantel. Er tastete den Boden des Schrankes und das Brett über der Kleiderstange ab. Wieder nichts. Auch die Durchsuchung der beiden Schrankkoffer, die Dutzende von Hemden, Unterhemden, Halsbinden und Frackhemden enthielten, blieb ergebnislos – genauso ergebnislos wie das Anheben der Matratze.
Er persönlich hatte auch noch bei keiner Hausdurchsu chung erlebt, dass jemand etwas unter seiner Matratze versteckt hätte. So wie er noch nie erlebt hatte, dass jemand etwas Wichtiges unter seinem Bett versteckte. Allerdings, überlegte Tron, könnten raffinierte Leute genau deshalb solche Verstecke wählen. Tron seufzte und ließ sich lang sam auf die Knie sinken. Er hob die Tagesdecke aus schwerem Brokatstoff an und streckte ohne viel Hoffnung den Kopf unter das Bett.
Und hier, an einem Ort, den man beim besten Willen nicht als originelles Versteck bezeichnen konnte, wurde er fündig. Unter dem Bett stand ein solider Metallbehälter, versehen mit einem nicht weniger soliden
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