Venezianische Verlobung
du danach?»
Sie seufzte. «Ich präge mir genau ein, wie er aussieht.
Der Mann wird das Hotel betreten und nach ungefähr zehn Minuten wieder herauskommen. Auf seinem Rückweg zur Novara ziehe ich den Schlüssel.»
«Und wenn du den Schlüssel hast?»
«Gebe ich ihn unauffällig an Sergente Bossi weiter.» So, wie sie die Antworten gab, flott und wie geölt, hörte sich alles ganz einfach an.
Der Commissario nickte zweimal. Einen Moment lang machte er ein äußerst zufriedenes Gesicht – als hätte sie den Schlüssel bereits an Sergente Bossi übergeben. Dann sah er sie plötzlich an und sagte unvermittelt: «Warst du deswegen vor ein paar Tagen bei Alessandro?»
Zuerst wusste sie nicht, was er meinte.
«Das Kleid», erklärte er. «Und die Schuhe.»
Also war es ihm doch aufgefallen. Wurde ja auch Zeit.
«Gefällt es Ihnen?»
Sie lächelte, und dann fühlte sie, wie sie rot wurde – richtig heiß im Gesicht. Etwas Derartiges hatte sie noch nie in ihrem Leben zu einem Mann gesagt – es war regelrecht kokett –, aber sie hatte auch noch nie in ihrem Leben so einen Mantel und so ein Paar Schuhe besessen. Nur gut, dass die nächste Gaslaterne zehn Schritt entfernt war.
«Es erleichtert die Sache», sagte der Commissario.
Einen Moment lang war sie verwirrt. «Welche Sache?»
«Die Sache mit dem Schlüssel. Dein Umhang wäre vielleicht etwas zu …» Der Commissario zögerte und schien nach dem richtigen Wort zu suchen.
Auf einmal wusste sie, was er meinte. «Zu auffällig gewesen?»
Der Commissario nickte. Dann schlug er den Kragen seines Gehpelzes hoch, rückte seinen Zylinderhut zurecht und sagte: «Die Gondel bringt dich zurück zum Rio San Maurizio.»
Sie schüttelte den Kopf. «Ich kann laufen.»
«Es ist dunkel und neblig, Angelina.»
Das war natürlich ein alberner Einwand, wenn man bedachte, was der Commissario über sie wusste. Aber er hatte sich besorgt angehört, und das rührte sie. Außerdem verkörperte er das Gesetz.
Angesichts dieser Polizeiwillkür konnte sie nur die Achseln zucken. «Wenn Sie meinen.»
Als sie wieder in der Gondel saß – ganz allein diesmal, denn Sergente Bossi war mit dem Commissario auf der Riva zurückgeblieben –, fragte sie sich, was sie davon abgehalten hatte, dem Commissario ihre Geschichte zu erzählen.
Die Sache war die, dass sie gestern Nachmittag keinen Erfolg auf der Erzherzog Sigmund gehabt hatte und kurz davor gewesen war, dem Commissario alles zu beichten.
Zwar war sie gestern ohne Schwierigkeiten auf das Schiff gekommen – der Matrose, der sie bei ihrem ersten Versuch nicht einmal auf die Gangway gelassen hatte, ließ sie diesmal anstandslos passieren. Doch der Zahlmeister, Signor Putz, ein buckeliger Zwerg, hatte sie zwar geduldig angehört, ihr aber nicht helfen können. Ein Mann, der wie ein Priester ausgesehen hatte und kurz vor zwölf auf den Dampfer gekommen war? Schwarzer Mantel? Schwarzer runder Hut? Ja, an den konnte er sich erinnern. Aber der hatte seine Kabine nicht vorher gebucht. Im Grunde, hatte er ihr freundlich erklärt, gebe es keine Passagierlisten, sondern nur Reservierungslisten. Keine Reservierung – kein Name auf der Passagierliste. Es tue ihm Leid.
Die Gondel passierte den Molo, und sie konnte die Gaslaternen auf der Piazzetta sehen, die sich träge gegeneinander verschoben, so als würde sich die Piazzetta selber bewegen und nicht die Gondel, in der sie saß. Gondelfahren – das war auch eine neue Erfahrung für sie. Ob es viele Venezianer gab, die noch nie in einer Gondel gesessen hatten? Auf jeden Fall war es ein wunderbares Gefühl, und sie genoss das ruhige Ausgleiten nach jedem Ruderschlag, danach die sanfte Beschleunigung und das weiche Schwappen, mit dem die Wellen gegen den Bug schlugen. Ein bisschen war es wie die Träume vom Fliegen, die sie manchmal hatte – Träume, in denen sie über Dächer und Schornsteine schwebte und ihre Haare wie eine Flagge hinter ihr herwehten.
Zwei Minuten später glitt die Gondel in die Mündung des Canalazzo, und ihre Gedanken kehrten wieder zu ihrem Besuch auf der Erzherzog Sigmund zurück – und zu der Frage, wie sie sich verhalten sollte.
Natürlich konnte sie den Commissario immer noch Montag in der questura aufsuchen. Doch dann waren fast zwei Wochen seit dem Mord am Rio della Verona vergangen, und der Commissario würde sie fragen, warum ihr das Gesicht des Mannes erst jetzt eingefallen war – eine nahe liegende Frage, die sie nicht
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